Die dreckige Geschichte der SchweizSchmutzige Katholiken, Mülltrennen als nationale Obsession
Die erste globale Geschichte des Mülls erzählt auch von der Entwicklung der menschlichen Zivilisation – und räumt mit unserem nationalen Sauberkeitsmythos auf.
An einem Haufen Müll, an Dreck und Kot und Mist lassen sich verblüffende Geschichten erzählen. Im heutigen Westjordanland stiessen Archäologen bei Grabungen auf eine Sensation, auf die älteste bislang bekannte Kleindeponie der Menschheitsgeschichte: Spuren von Haushaltsmüll, Dung und tierischen Überresten, sagenhafte 10’000 Jahre alt.
Menschheitsspuren im Müll
«Der Haufen stellt eine beachtliche zivilisatorische Leistung der Menschheit dar, die damals langsam lernte, mit ihrem Abfall umzugehen», sagt der deutsche Historiker Roman Köster. Köster muss es wissen, er hat einen Grossteil seiner bisherigen akademischen Laufbahn dem gewidmet, was seine Mitmenschen wegwerfen, verkippen, verbrennen oder, im besseren Fall, wiederverwerten: dem Müll. In seinem dieser Tage erscheinenden Buch erzählt der Geschichtswissenschaftler, der an der Universität der Bundeswehr München lehrt, verständlich und reich an Anekdoten die erste Weltgeschichte des Mülls, «die schmutzige Geschichte der Menschheit», wie es im Untertitel heisst.
Ein Buch über Müll? Ja, und erst noch spannend und überraschend. Mit der Garbology, deutsch: Müllarchäologie, hat sich ein eigenständiger Forschungszweig etabliert, der in historischen Deponien gräbt und so Schlüsse zieht über das Leben der Menschen in vergangenen Epochen.
Im Müll spiegeln sich unter anderem Ernährung, Sitten, Wirtschaft, Technologie oder Hygieneverhalten von Gesellschaften und Kulturen. Wenn der Mensch keinen Müll hinterlassen würde, wüssten wir sehr viel weniger über seine Vergangenheit.
Während Jahrtausenden war der Abfall für den Menschen vor allem ein praktisches Problem. Er roch, lag herum, lockte unerwünschte Tiere an oder behinderte wie etwa im alten Rom Passanten und Verkehr.
Mit der Bevölkerungsexplosion in der Moderne, besonders im Zuge des starken und weltweiten Städtewachstums seit dem späten 18. Jahrhundert wurde der Umgang mit dem Müll zu einer existenziellen Frage: Die Abfälle begünstigten die Ausbreitung von Typhus und Cholera, Seuchen, die bis in das 20. Jahrhundert in den Städten Hunderttausende von Opfern forderten.
In der Gegenwart ist das Thema Müll in mehrerer Hinsicht eine globale Herausforderung: als weltweite Umweltbedrohung, als globales Politikum, aber auch als ideologisch aufgeladene Alltagspraxis.
Müllsammeln als grosse zivilisatorische Leistung – die These muss einem Volk wie den Schweizerinnen und Schweizern gefallen, das für sich in Anspruch nimmt, das eigene Land ganz besonders sauber zu halten. In einem der erhellendsten Kapitel des Buches zeigt Köster auf, wie sich Abfallbeseitigung und Sauberkeitsverhalten im Laufe der Geschichte immer enger mit Werten wie Anstand, Fleiss und Moral verbanden und daraus ein «sozialer Überbietungswettbewerb» entsprang um immer noch mehr Sauberkeit.
Der andere ist der Schmutzige
Umgekehrt lässt sich quer durch alle Epochen belegen, wie sehr es den Menschen immer wieder Genugtuung und Vergnügen bereitet, andere Leute als schmutzig zu diffamieren. Der römische Satiredichter Juvenal beschrieb das Rom im 1. Jahrhundert nach Christus als «Schweinestall»; er beklagte die stete Gefahr, auf der Strasse mit Fäkalien überschüttet zu werden. Tatsächlich leistete sich Rom – eine Stadt mit bereits einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern – zwar eine mehrere Tausend Mann starke Feuerwehr. Eine Müllabfuhr aber gab es nicht.
Der Schriftsteller Hanna Diyab aus Aleppo (Autor der Erzählung von Aladins Wunderlampe) stellte 1707 in Marseille erschrocken das Fehlen von Latrinen fest.
Im 19. Jahrhundert verband sich der Sauberkeitsdiskurs mit dem Nationalismus. Die Westeuropäer denunzierten die Russen als schmutzig, da diese angeblich die Angewohnheit hatten, bei Tisch die Serviette nach ihrer Benutzung an den nächsten Gast weiterzureichen; die Russen hingegen bezeichneten die Chinesen als Schmutzfinken, da diese, so hiess es, Abfälle achtlos auf den Boden werfen. Und während der Kolonialzeit schürten die europäischen Eroberungsregime Vorurteile über angeblich mangelnde Hygiene und Sauberkeit in der unterdrückten Bevölkerung, um ihre ausbeuterische Gewaltherrschaft zu rechtfertigen.
Der Müll und der Schmutz in den Städten war ein populärer Streitpunkt im Zivilisationswettkampf, den sich Schweizer Katholiken und Protestanten im Ancien Régime lieferten. «Konfessionsgrenzen waren Schmutzgrenzen», schreibt Köster – die hiesigen Glaubensgruppen stritten sich darüber, welche Konfessionsterritorien in welchem Mass von Flöhen und Läusen verseucht waren. Die Protestanten nahmen für sich in Anspruch, den Katholiken im Hinblick auf Sauberkeit und Hygiene überlegen zu sein.
Schweine und Pferde als Umweltbelastung
Aber zweifellos hat die Schweiz in der Geschichte des Mülls und seiner Beseitigung Grosses geleistet, dies ist in Kösters unterhaltsamen und gleichzeitig detailreichen Buch ausführlich gewürdigt.
Mittelalterliche Städte waren gewissermassen auf einer Mülldeponie gebaut. Die Menschen sammelten Haushaltsabfälle und Fäkalien in Eimern und kippten diese auf die Strasse vor ihrem Haus. Im Mittelalter lebten in den Städten Menschen und ähnlich viele Tiere, vor allem Schweine und Pferde; sie hinterliessen Tag für Tag Tonnen von Kot, der auf den Strassen dampfte und übel roch.
In den vielen Schweizer Städten entwickelte sich ein System von Ehgräben: schmale, hinter dem Haus verlaufende Gräben, in die der Unrat geworfen wurde. Für damalige Verhältnisse durchaus innovativ. Der Gestank indessen muss nicht nur für heutige Verhältnisse ungeheuerlich gewesen sein – auf der Rückseite der damaligen Häuser sind kaum Fenster eingebaut.
Auf diese Zustände kann der Schweizer Sauberkeitsmythos kaum zurückzuführen sein. Köster hält fest, dass ein effizientes Müllmanagement, hohe Hygiene-Standards und grosse Sauberkeit im öffentlichen Raum vielmehr mit der Wirtschaftskraft und dem Lebensstandard korrelieren.
Der Wohlhabende leistet sich Sauberkeit und Hygiene. Der Arme bleibt im Dreck und Müll stecken. Das gilt bis heute.
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts berichteten die frühen Schweiz-Touristen von verschmutzten Strassen und Häusern, von dreckstarren Bewohnerinnen und Bewohnern im damals armen Agrarland.
Tatsächlich setzte mit dem ökonomischen Wachstum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Schweiz eine systematische und effiziente Müllbewirtschaftung ein. 1902 entwickelten in Zürich hiesige Ingenieure den legendären Ochsner-Kehrichteimer, ein Kübel aus feuerverzinktem Stahl, mit Deckel und Geräuschdämpfer an der Standfläche. Über die Jahrzehnte modifiziert, überwand er alle föderalistischen Barrieren und wurde zum Mülleimer der ganzen Nation; erst in den Siebzigerjahren verdrängten ihn Müllsack und Container aus den Haushalten und von der Strasse.
Das Land wurde europäischer Vorreiter beim Bau von Kehrichtverbrennungsanlagen. 1904 startete in Zürich die Anlage Josefstrasse ihre Öfen.
Abfalltrennung und Seelenreinigung
Im Jahr 1980 verbrannte die Schweiz «rekordverdächtige 80 Prozent ihres Haushaltsmülls», wie Köster schreibt. Auch deshalb, weil zu wenig Land für Deponien zur Verfügung stand und mögliche Standorte sich vehement dagegen wehrten, zu einem Abfalleimer der Nation zu werden.
Ob die Schweiz, wo bekanntlich auch der Robidog erfunden worden ist, tatsächlich das Land ist, in dem Gastgeber bereits mit dem Abwasch beginnen, wenn die Gäste noch am Tisch sitzen, und ob diese Gäste beim Betreten der Wohnung ihrer Gastgeber die Schuhe ausziehen müssen, dies beantwortet Köster nicht. Im Rahmen einer Weltgeschichte des Mülls sind diese Dinge wahrscheinlich vernachlässigbar.
Köster selbst kennt die Schweiz gut und nimmt sie als sehr sauber wahr – aber an der Spitze der Sauberkeitsskala zu stehen, das haben auch schon ganz andere behauptet, Berlin etwa zur Zeit des Kaiserreiches. Berlin?!
Auf sauberem Grund fällt Unreines schneller auf. In sauberen Waschküchen werden Abweichler diszipliniert. In der Konsumgesellschaft, im Wegwerfwunderland, in der Epoche der Recycling-Religion ist Müll schon zu einer Art Fetisch geworden. Das akkurate Trennen, die samstägliche Fahrt zur Recyclingstelle, am besten mit dem Lastenbike unternommen, ist die Ablasshandlung des Konsummenschen geworden. Und viele, die an einem sonnigen und warmen Samstagmorgen ihr Altglas in die Container einwerfen, mit kontrollierter Kraft und ohne unnötigen Lärm, tragen nach getaner Entsorgung eine Zufriedenheit im Gesicht, wie sie uns nur das Bewusstsein schenkt, eben eine gute Tat vollbracht zu haben.
Roman Köster: Müll – Eine schmutzige Geschichte der Menschheit. C. H. Beck, München 2023. 442 S., ca 42 Fr.
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