Schweizweites NovumWeniger Wildunfälle: Smarte Warnanlage im Berner Oberland ist ein Erfolg
Die automatisierte Wildschutzanlage im Oberhasli erkennt Rehe und Rothirsche auf der Strasse und warnt Autofahrende. Wie funktioniert das System?

- Der Kanton Bern hat in dieser Bauart eine einzigartige, automatisierte Wildwarnanlage in Betrieb genommen.
- Die Testanlage reduziert Wildunfälle mit Rothirschen um 75 Prozent.
- Reduziertes Tempo mindert Schäden für Menschen, Tiere und Fahrzeuge zugleich.
- Der automatisierte Normalbetrieb soll im November 2025 starten.
Tempo 80? Gerne fahren einige hier auch mal schneller als die vorgegebene Maximalgeschwindigkeit. Die kilometerlangen Geraden der Kantonsstrasse 6 zwischen der Verzweigung Brünig und Willigen bei Meiringen verlocken geradezu, etwas mehr aufs Gas zu drücken. Doch plötzlich warnt in der Dämmerung eine grosse Anzeige: Tempo 40.
Das Leuchtschild gleich nach dem Ende der A8 – wo sogar 100 km/h erlaubt sind – beim Abzweiger Brünig bei Brienzwiler zeigt an: Gefahr von Wildwechsel. Die elektronische LED-Signalisation, die bei Gefahr zur Tempodrosselung auffordert, ist eine Neuheit. Die Wildwarnanlage ist in dieser Form schweizweit einzigartig. Warum gerade hier?
Zaun als Hindernis für Wildtiere
Als im Jahr 2014 rund um den Militärflugplatz Meiringen ein Wildschutzzaun errichtet wurde, mussten aufgrund von Umweltauflagen Ersatzmassnahmen für die Wildtiere her. Diese nutzen den Talboden zwischen Brienzersee und Aareschlucht als Wintereinstand oder um von Talseite zu Talseite zu wechseln.
Doch: «Der Zaun stellt für die Quervernetzung der Wildtiere trotz Passierbarkeit bei den Durchfahrten ein unnatürliches Hindernis dar.» So beschreibt die aktuelle «Flugplatznews» von der Militärpiste bei Unterbach die Problematik. Der Bundesbetrieb Armasuisse, Verwalter des Flughafengeländes, sprach beim Kanton Bern vor.

Gemeinsam schoben Bund und Kanton das Projekt Wildwarnanlage an. Als besonderer Gefahrenherd wurde die lokale Rothirschpopulation ausgemacht. Kollisionen mit den grossen und schweren Tieren können verheerend sein. Hinzu kommt die lange Gerade, deren Monotonie die Aufmerksamkeit der Fahrzeuglenker schwinden lässt.
Die Kosten für die Massnahmen, die ab 2021 umgesetzt wurden, haben sich Bund und Kanton aufgeteilt. Gemäss Armasuisse übernahm der Bund mit 500’000 Franken die Hauptkosten. Der Kanton Bern beteiligte sich mit 300’000 Franken.
Auch Streusalz lockt Hirsche und Co. an
Vor Beginn der Massnahmen zählte man im Talboden rund um den Flugplatz etwa 300 Rothirsche. Stärkere Bejagung hat den Bestand bis diesen Winter auf circa 150 Rothirsche reduziert. Tagsüber verstecken sich die Tiere in den bewaldeten Hängen oberhalb des Flugplatzes. Im Schutz der Dämmerung wagen sie sich zum Äsen dann auf den Talboden.
«Autos werden von Rothirschen nicht als Gefahr wahrgenommen», weiss der gebietszuständige Wildhüter Martin Schürmann: «Der Talboden ist für sie und andere Wildtiere interessant wegen des Nahrungsangebots, etwa durch Wintersaat oder weil gewisse Bereiche früh ausapern. Zudem kann Streusalz des Winterdiensts die Tiere auf die Strassen locken.»

Eine weitere Gefahr: Rothirsche kreuzen die Kantonsstrasse 6 auch, um in der Aare zu trinken. «Im Jahr 2017 zählten wir allein entlang der Kantonsstrasse acht tote Rothirsche infolge Kollisionen mit Fahrzeugen», sagt Schürmann. «Zusätzlich waren elf Nachsuchen nach verletzten Tieren notwendig.»
Schon bei Tempo 40 kann ein Zusammenprall mit einem 55 Kilo schweren Tier eine Wucht von einer Tonne erzeugen. Dies hat der TCS anhand von Crashtests festgestellt. «Die Kollision mit einem bis zu 250 Kilogramm schweren Hirsch bei Tempo 80 endet für das Tier meist tödlich und für das Fahrzeug mit Totalschaden», hält Martin Bolliger vom TCS fest.
Kollisionen sind «für Insassen lebensgefährlich»
«Auch die Verletzungsgefahr für die Fahrzeuginsassen ist sehr hoch», so der Experte in der Abteilung Test und Technik beim TCS: «Rothirsche sind so gross, dass sie in der Regel über die Motorhaube in die Windschutzscheibe krachen – für die Insassen lebensgefährlich.»
Im Kanton Bern sind zahlreiche Strassenabschnitte, welche durch häufige Wildunfälle auffallen, in rote Zonen eingeteilt. Dort werden vor allem Unfälle mit kleinerem Wild (Reh, Fuchs, Wildschwein) registriert, die in der Regel nur zu Sachschäden am Fahrzeug führen. Rund 3500 Wildtiere fallen pro Jahr allein im Kanton Bern dem Strassen- und dem Schienenverkehr zum Opfer.

«Unser Abschnitt zwischen Brienzwiler und Willigen ist zwar nicht in einer roten Zone», erklärt Peter Flück-Urfer, Strasseninspektor Oberland Ost: «Aber durch das Vorherrschen von Rothirschen als Unfallverursacher besteht eine massiv grössere Gefährdung der Verkehrsteilnehmer.» Für ihn stehen das Verhindern von Tierleid und der Schutz von Automobilisten gleichermassen im Vordergrund.
Die Anlage könne keine hundertprozentige Sicherheit geben, schränkt Flück-Urfer ein. Aber das reduzierte Tempo vermindere die Folgen eines Zusammenstosses massiv. «Es liegt jedoch immer in der Verantwortung des Automobilisten, umsichtig und vorsichtig zu fahren», appelliert er.
Ähnliche Versuche auch im Kanton Zürich
Koordiniert durch die Interlakner Firma Ribuna AG, erstellten verschiedene fachspezifische Unternehmen die Anlage. Die Ingenieure tasteten sich nach und nach an das Ziel einer vollautomatischen Detektion von Wildtieren im Bereich der Strasse heran, in dieser Bauart eine schweizweite Neuheit.
«Im Jahr 2024 konnten wir das ganze automatisierte System aufschalten», so Lukas Bühler, Geschäftsleiter der Ribuna AG. Ähnliche Versuche laufen im Kanton Zürich, um auf einer Strecke von 400 Metern einen Wildwechselkorridor abzusichern. Dort wird die Geschwindigkeit indes nicht beschränkt. Blinklichter warnen aber, wenn sich Tiere der Strasse nähern.

Nach Inbetriebnahme der Anlage im Oberhasli im Winter 2020/21 wurde jeweils am Abend eine Geschwindigkeit von zunächst 60 und später 40 km/h durch einen Mitarbeiter des Strasseninspektorats signalisiert und erst am Morgen wieder aufgehoben.
Ab dem Winter 2021/22 suchte Wildhüter Martin Schürmann jeden Abend mittels Wärmebildkamera den ganzen Abschnitt ab und schaltete die Signalisation bei Bedarf manuell um. Bald entlasteten ihn drei Jäger, darunter auch Strasseninspektor Peter Flück-Urfer, selbst ebenfalls Jäger. Mittels App konnten sie bei einer Sichtung die Signalisation umschalten. Diese blieb die ganze Nacht bestehen.
86 Sensoren sorgen für Sicherheit
Hinzu kommt die Wildwarnanlage rund um den Flugplatz Meiringen. Diese ist etwa von Ende November bis Ende März von 18.45 bis morgens bis 6 Uhr eingeschaltet, je nachdem, wie lange die Rothirsche ihren Wintereinstand im Tal haben.
Mit Beginn dieses Winters wurde die Anlage an der Kantonsstrasse 6 dem automatischen Betrieb übergeben, aufgeteilt in vier unabhängige Sektoren. 86 Sensoren entlang der Strasse reagieren auf Wärme und Bewegung und schalten bei Bedarf automatisch auf 40 oder 60 km/h. Die Sensoren reichen, je nach Witterung, bis 100 Meter in die Raumtiefe.
Auch bei klarer Sicht sind die gut getarnten Wildtiere am Strassenrand selbst bei Tempo 40 – also bei Betrieb der Wildwarnanlage – aus dem Fahrzeug nur schwer zu erkennen. Und weit weniger noch bei Tempo 80.
Die reduzierte Geschwindigkeit bleibt 20 Minuten bestehen, sofern kein neues Signal erfolgt. Ein weiteres Ereignis innerhalb dieser 20 Minuten startet die Zeitmessung neu. Als Zusatznutzen der Warnanlage kann das Strasseninspektorat zur Absicherung von Unterhaltsarbeiten auf der Strasse die Geschwindigkeit auf 60 oder 40 km/h beschränken.
Die Zahl der Unfälle hat deutlich abgenommen
«Verantwortlich für den Betrieb und Unterhalt der Warnanlage sind die Mitarbeitenden des Werkhofs Innertkirchen», erläutert Peter Flück-Urfer und fügt hinzu: «Bei Fehlern oder Defekten sendet die Anlage eine automatische Fehlermeldung an uns, damit wir Probleme sofort beheben können.»

Im aktuell laufenden Testbetrieb der Wintersaison 2024/25 würden allfällige Verbesserungen und Optimierungen vorgenommen. «Ziel ist, dass wir ab November 2025 den voll automatisierten Betrieb aufnehmen können», blickt Strasseninspektor Peter Flück-Ufer voraus.
Derweil zieht Wildhüter Martin Schürmann eine erste, sehr ermutigende Zwischenbilanz. «Wir dürfen feststellen, dass die Wildwarnanlage die Unfallhäufigkeit um drei Viertel reduziert hat.»
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