So war das digitale TomorrowlandFunktioniert das grösste Elektro-Festival der Welt auch online?
Am Wochenende hätte eines der grössten Festivals der Welt stattfinden sollen. In Zeiten der Corona-Pandemie fiel es nicht aus, sondern fand im Internet statt. Wir waren dabei.
Boom, eine Stadt in Flandern mit knapp 19’000 Einwohnern. Einmal im Jahr wird das belgische Städtchen von 400’000 Besucherinnen und Besuchern überschwemmt. Dann trifft sich dort das Who is Who der elektronischen Musik zu einem der grössten Festivals der Welt: dem Tomorrowland.
Dieses Jahr ist am letzten Juli-Wochenende in Boom alles anders. Das Coronavirus, das zahlreiche Kulturveranstaltungen weltweit zum Erliegen brachte, verhinderte den Aufmarsch von Fans aus aller Welt. Doch statt sich entmutigen zu lassen und das 2005 gegründete Festival ausfallen zu lassen, entschieden sich die Macher, den Anlass ins Internet zu verschieben. Wir haben am Wochenende das erste digitale Festival der Welt getestet.
Wie sieht ein digitales Festival aus?
Die ganze Welt trotz Covid-19 vereint, zu einer «brandneuen, magischen Erfahrung» auf der virtuellen Insel Papilionem, auf der an zwei Tagen sieben Stunden lang getanzt und geravt werden konnte, zu Sound, der von acht Bühnen kommt. 20 Euro kostet das Ticket im Vorfeld für beide Tage. Wer wirklich schon mal in Boom war, der weiss: Der Event kann in echt gern das Hundertfache kosten.
Nach dem Ticketkauf logge ich mich am Samstag auf der Website ein. Auf der Startseite kann ich über die Insel navigieren, mich je nach Musikgeschmack für eine der Bühnen entscheiden. Jeder DJ hat wie an einem echten Festival seinen Slot, die Sets überschneiden sich, die Fans müssen sich entscheiden. Das Gefühl, etwas verpassen zu können – es ist so real wie bei einem echten Festival.
Die Bühnen und Auftritte sind es nicht. In nur drei Monaten wurden im Vorfeld in eigens gebauten Green-Screen-Studios in Boom, Los Angeles, São Paulo und Sydney die Shows von mehr als 60 Künstlerinnen und Künstlern aufgenommen und dann in 3-D-Visualisierungen digitalisiert. 300 Terabyte Daten wurden während vier Wochen 24 Stunden am Tag verarbeitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Bühnen bieten Licht- und Lasereffekte, sogar an den Sound der Nebelmaschinen haben die Macher gedacht, Fans schwingen virtuell ihre Festival-Fahnen.
Kann das funktionieren?
Am Samstag feiere ich den Geburtstag bei einem Freund, wir zappen uns durch die Bühnen, die einem richtig guten Game entsprungen zu sein scheinen. Als wir Aufnahmen via Airplay vom iPhone auf den Fernseher übertragen wollen, streikt die Technik.
Derselbe Fehler soll Sonntag nicht noch einmal passieren: Ich verbinde den Laptop via HDMI-Kabel mit dem Fernseher. Sogleich auf dem 42 Zoll grossen Bildschirm, mitsamt Soundbar und ordentlich Bass aus dem Subwoofer, kommt doch so etwas wie Stimmung auf. Allerdings: Ich tanze nicht, ich sitze auf dem Sofa, lasse mich von den Aufnahmen berieseln. Die Sets sind gut, mit Adriatique und EDX haben es sogar Schweizer DJs ans Festival geschafft.
Spätestens dann, wenn allerdings Alan Walker, Martin Garrix oder Tiësto mit dem «Publikum» interagieren und es versuchen zu animieren, wird es peinlich. Auch wenn ihnen allen die Freude anzusehen ist und sie sicher dahingehend profitieren, dieses Jahr überhaupt auftreten und damit auch Einnahmen generieren zu können, sind es diese Momente, die einfach nicht darüber hinwegtäuschen, was das ist: eine digitale Bildproduktion mit berauschenden Aufnahmen.
Ist das die Zukunft?
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Wenn über der schwangeren Katy Perry und ihrem grossen Hit «Fireworks» animierte Raketen in den dunklen Nachthimmel auf dem Fernseher schiessen, dann ist das zwar sehenswert, aber weit vom Live-Erlebnis entfernt. Spasseshalber teste ich die 3-D-Funktion meines Fernsehers, setze die Brille auf – denn die Animationen sind prädestiniert, auch 3-D erlebt zu werden.
Und dann schleicht sich die Erkenntnis ein, wie wir in den nächsten Jahren und in einer Welt, aus der Covid-19 vielleicht nicht mehr wegzudenken ist, statt Festivaltickets virtuelle Festivalbrillen kaufen, in der Hoffnung, dann von einem Algorithmus nicht hinter einem digitalen 2-Meter-Hünen platziert zu werden. Das Tomorrowland hat schon einmal bewiesen, was technologisch möglich ist. Und mehr als 1 Million Menschen war dabei.
Als einer von ihnen habe ich mich gut unterhalten gefühlt. Doch: Auch wenn eingefleischte Fans in ihren Wohnzimmern auf den Tischen getanzt und die Fernseher von den Wänden gerissen haben dürften – sie werden nur zu froh sein, wenn sie wieder alle gemeinsam raven können. Solange das Virus grassiert, macht es Sinn, technologische Möglichkeiten auszuschöpfen und den Acts eine Bühne zu geben. Vielmehr als ein Flackern auf Handy, Tablets und Fernsehern wird von der Pioniertat des ersten digitalen Tomorrowland kaum bleiben.
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