Höhenflieger FC St. Gallen«Bei uns ist nichts normal»
Die Ostschweizer Mannschaft verblüfften letzte Saison mehr als jede andere Mannschaft. Jetzt ist spannend zu verfolgen, wie sie sich trotz gewichtiger Abgänge präsentieren.
Glücksspiel kann tückisch sein. Zum Beispiel dann, wenn man Karten zieht, um eine Prognose für die neue Fussballsaison abzugeben. Die «Dritte Halbzeit», der Podcast von Tamedia, hat das gemacht. St. Galler hören besser nicht hin. Ihr FC soll demnach nur auf Platz 6 landen.
6 statt 2. Dabei hat Alain Sutter ein anderes Credo: «Ich habe hohe Ambitionen. Ich will besser werden. Das muss unser Anspruch sein.» Normalerweise ist 1 besser als 2.
Entspannt sitzt der Sportchef des FC St. Gallen in seinem Büro, als er das sagt. Entspannt ist er meistens. Es braucht ohnehin viel, ihn aus der Reserve zu locken. Einen wiederholten Elfmeter vielleicht wie beim berühmten 3:3 gegen YB, als er mit erhöhtem Puls das Gespräch mit Schiedsrichter Alain Bieri suchte. Aber sonst? Da hält es Sutter ganz gerne mit der Gelassenheit. Das hilft, um seit Anfang 2018 in St. Gallen zufrieden arbeiten zu können.
In der Ostschweiz haben sie die letzte Meisterschaft genutzt, um eine wunderbare Geschichte zu schreiben. Zweiter sind sie geworden, und vielleicht wäre es noch besser gekommen, wenn Corona nicht auch bei ihnen die Zuschauer aus dem Stadion vertrieben und so einen enormen Rückhalt genommen hätte.
«Ob Rang 1, 2 oder 5», sagt Sutter, «das hat immer mit dem Gegner zu tun. Mir geht es nicht um Punkte und Rangliste. Mir geht es um das Erlebnis, um den Moment. Mir geht es um die Zuschauer, dass sie Freude haben und sagen, sie würden das nächste Mal wiederkommen.»
Nur soll ihn jetzt keiner falsch verstehen. Wichtig ist der Zusatz, den er hat: «Wenn ich sage, dass ich jedes Spiel gewinnen will, ist klar, welchen Platz ich erreichen will.»
Als Sutter Sportchef wurde, prägte er schnell den Begriff der «Bravehearts». So sollen die Spieler auftreten: mutig, entschlossen, furchtlos. Sie sollen nicht reagieren, sondern agieren. Aktiv ist das Schlüsselwort für Sutter. Und das waren die Spieler letzte Saison, sonst hätten sie YB niemals bis zuletzt fordern können. Das fing bei einer Führung um Präsident Matthias Hüppi an, weil die wusste, welchen Fussball die Fans sehen wollen. Ging weiter über Trainer Peter Zeidler, der den Erfolg unter anderem mit einer Abwehr suchte, die im Durchschnitt 20 Jahre alt war. Und endete bei Spielern, die wussten, dass sie Fehler machen und auch einmal 0:4 oder 0:5 verlieren durften, ohne dass ihr Trainer deshalb alles über den Haufen warf. Hüppi bringt es auf den Punkt: «Wir können uns nicht verleugnen.»
Ein Achtel von Neymar und das St. Galler Modell
St. Gallen ist ein Billigprodukt. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern die Wirklichkeit, weil die gesamte Lohnsumme für die erste Mannschaft 7,6 Millionen Franken beträgt und damit ein Achtel des Jahresgehalts von Neymar in Paris. Bei der Mannschaft der letzten Saison war Cedric Itten mit einer Ablöse von 500’000 Franken der Teuerste, Lukas Görtler war «fast gratis», so Sutter. Lawrence Ati Zigi kostete keine 100’000 Franken, Miro Muheim, Jordi Quintilla, Victor Ruiz, Yannis Letard oder Jérémy Guillemenot waren gratis. Silvan Hefti war wie Leonidas Stergiou ein eigener Junior und Ermedin Demirovic ausgeliehen von Alaves.
Zum St. Galler Modell gehört, dass Spieler kommen und gehen, dass sie ausgebildet und bestenfalls mit Gewinn verkauft werden. Dass das Kollektiv immer wichtiger ist als ein Einzelner. Vor einem Jahr wurde das Kader um Tranquillo Barnetta, Vincent Sierro, Majeed Ashimeru und vor allem um Dereck Kutesa geschwächt, der für 1,9 Millionen Franken nach Reims zog. Im Winter folgte für 1,2 Millionen auch noch der Abgang von Goalie Dejan Stojanovic zu Middlesbrough. Und was passierte, trotz aller Befürchtungen? Die Mannschaft brach nicht auseinander, im Gegenteil. Sie würde stärker.
So soll es auch diesmal sein, wenn es darum geht, Hefti, Itten und Demirovic zu ersetzen: den Captain und die beiden Stürmer, die zusammen 33 von 79 Toren erzielten. Schon im Winter ging Sutter davon aus, dass diese drei den Club verlassen werden. Jedenfalls legte er dem Verwaltungsrat eine Liste mit ihren Namen vor.
«Demirovic wollte unbedingt bleiben», sagt Hüppi. Demirovic fühlte sich in der Ostschweiz bestens aufgehoben, er liebte die Berge als Fotosujet. Aber der finanzielle Reiz war zu gross, als der SC Freiburg um ihn warb. Itten (nun Glasgow Rangers) brachte wenigstens rund 3 Millionen ein, Hefti (YB) die Hälfte davon. Damit war, trotz aller üblichen Abzüge, die Budgetvorgabe erreicht, pro Saison einen Transferüberschuss von einer halben Million zu erwirtschaften.
Auf den Abgang von Hefti reagierten etliche Fans in der Ostschweiz emotional. Sie verstanden seinen Wechsel innerhalb der Schweiz nicht, «wäre er nach Wladiwostok, Strbske Pleso oder St. Pauli gegangen, hätte keiner etwas gesagt», glaubt Hüppi. Das Einverständnis zum Wechsel gab letzten Endes Trainer Zeidler. Wäre er der Meinung gewesen, ohne Hefti falle alles auseinander, hätte St. Gallen diesen Spieler nicht gehen lassen. So hält das Hüppi fest. Andererseits wäre es auch fatal gewesen, wenn Weh und Ach von einem Rechtsverteidiger abhängen würden.
Hüppi nimmt die teilweise lauten Reaktionen im Fall Hefti als das hin, was sie sind: als Zeichen der Verbundenheit der Fans mit ihrem Verein. «Man muss den Emotionen freien Lauf lassen», sagt er, «bei uns ist alles emotional, nichts normal.» Diese Verbundenheit ist gross, gerade in diesen Zeiten. 8500 Saisonkarten für 3,4 Millionen Franken sind bereits verkauft worden. Für viele weitere gibt es eine Warteliste, solange keiner offiziell weiss, wie viele Zuschauer ab Oktober ins Stadion dürfen.
Selbst wenn es nicht gut läuft, garantiert Hüppi Ruhe
In St. Gallen ist den Verantwortlichen bewusst, dass die neue Saison «extrem herausfordernd» sein wird, so sagt das Sutter. «Nuancen werden wieder entscheiden.» Die Meisterschaft 18/19 ist nicht vergessen, als St. Gallen der Sturz in die Barrage drohte, bevor schliesslich nur ein Tor zur direkten Qualifikation für die Europa League fehlte. Auch für Hüppi ist das die Erinnerung daran, wie eng es in der Super League zu- und hergehen kann. Zumal die Neuen keine Namen haben, die den Erfolg gleich garantieren würden. Sie heissen Kwadwo Duah, Florian Kamberi, Basil Stillhart, Boubacar Traoré oder Elie Youan und kommen aus Wil, Edinburgh, Thun, Kfar Saba und Nantes. Dennoch verspricht Zeidler: «Das sind fünf richtig interessante Jungs.»
Das Denken in der Ostschweiz ist langfristig. Darum haben Sutter als Sportchef und Zeidler als Trainer gemeinsam ihre Verträge bereits bis 2025 verlängert. Die beiden verstehen sich blendend, so unterschiedlich sie auch sein oder wirken mögen. Wenn es um Ansichten zum Fussball, zur Pädagogik oder zur Führung einer Mannschaft geht, sind sie deckungsgleich. Eineinhalb Stunden musste sich Sutter mit Zeidler vor zwei Jahren unterhalten, um zu erkennen, dass er als Trainer erste Wahl ist.
2025 ist als Zeichen nach aussen zu verstehen, dass beim FC St. Gallen in Ruhe und zielgerichtet gearbeitet wird. Es braucht auch keiner an den Grundfesten zu rütteln, sollten am Anfang die Punkte fehlen. «Das kann ich garantieren», betont Hüppi.
Womit nur die Frage ist, was das Ziel für die neue Saison ist. Sutter macht klar, dass der Erfolg kein Selbstläufer sein wird. Hüppi mag sich nicht auf einen Platz als Prognose festlegen, er weiss, dass St. Gallen «der Underdog» bleibt. Aber mit einem kämpferischen Ton verspricht er: «Wir lassen uns nichts gefallen.»
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