Ansteckungsketten verfolgenBehörden ignorieren Contact-Tracing-Lösung
Seit letztem Mai möchten die Tracing-App-Anbieter den Kantonen und dem Bund eine gemeinsame Datenbank zur Verfügung stellen, mit der innert Sekunden mögliche Infizierte gewarnt werden könnten.
Seit dem ersten Lockdown haben insgesamt zwölf Anbieter Lösungen entwickelt, wie sich die Gäste von Restaurants, Konzerten und Skigebieten einfach registrieren können. Und fast so lange versuchen sie Bund und Kantonen schmackhaft zu machen, die so gesammelten Daten auch zu nutzen, um das Virus zu bekämpfen. Bis jetzt vergeblich (Lesen Sie den Kommentar).
Länder wie Taiwan oder Südkorea machen es vor: Sie bekämpfen das Virus mit Contact-Tracing. Damit werden alle Kontakte eines Infizierten informiert, dass sie möglicherweise angesteckt wurden, und in Quarantäne geschickt. So wird die Infektion gestoppt und die Fallzahlen gesenkt.
In der Schweiz versucht man das ebenfalls: erstens mit der Pflicht von Restaurants oder anderen öffentlichen Veranstaltern, ihre Gäste zu erfassen. Wird jemand positiv getestet, werden die anderen Gäste durch die kantonalen Contact-Tracer darüber informiert und in die Quarantäne geschickt. Das kann aber Tage dauern, weil sich der Infizierte zuerst daran erinnern muss, wo er überall war und dann entweder in mehreren Datenbanken oder gar mit Zetteln herausgefiltert werden muss, wer auch noch infiziert sein könnte.
Zweitens gibt es die Swiss-Covid-App, die Kontakte von Handy zu Handy registriert, aber nur funktioniert, wenn jemand die App auch installiert, dauernd am Laufen hat und der App meldet, wenn er angesteckt wurde. Auch dabei dauert es Tage, bis die möglicherweise ebenfalls Infizierten informiert werden. Wertvolle Zeit im Kampf gegen das Virus.
Millionen Daten liegen brach
Schneller ginge es, wenn die in Restaurants, Bars oder bei Veranstaltungen erfassten Daten direkt den kantonalen Contact-Tracern zur Verfügung stehen würden. Aufwendiges Zusammensuchen von Daten durch die Contact-Tracer würde entfallen. Und mit diesen Daten liesse sich auch zurückverfolgen, wo jemand war – ohne dass diese Person sich daran erinnern muss. Die Datenbanken der zwölf Anbieter decken gemäss deren Angaben 85 Prozent aller Kontakte ab – ein Vielfaches der Swiss-Covid-App und mehr, als für die Eindämmung des Virus nötig ist.
«Man könnte einen Lockdown verhindern», sagt Jakob Kaya, Co-CEO von Mind Now, der die Lösung mitentwickelt hat, «weil mit viel weniger Aufwand viel schneller Ansteckungsketten unterbrochen werden könnten.» Eine solche gemeinsame Datenbank sei mit dem Datenschutz kompatibel. «Die Benutzer haben bei der Registrierung ihr Einverständnis gegeben, die Daten zu nutzen, die Kantone müssten es nur tun», sagt Kaya. Seit dem Juni sei man beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), bei der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), bei den Kantonsärzten und bei zahlreichen Kantonen vorstellig geworden.
«Man stellt lieber noch mehr Contact-Tracer ein, die sich mit Zetteln herumschlagen, statt die vorhandenen Daten zu nutzen.»
Man habe mehreren Kantonen, darunter Basel, Bern und Zürich einen Testmonat angeboten, um zu zeigen, wie viel einfacher die digitale Lösung gegenüber dem heutigen analogen Contact-Tracing sei. Überall habe man interessiert zugehört, aber niemand sei darauf eingestiegen. «Man stellt lieber noch mehr Contact-Tracer ein, die sich mit Zetteln herumschlagen, statt die vorhandenen Daten zu nutzen», sagt Kaya.
«Keine Zeit»
«Im Sommer sagte man uns, man brauche das nicht, die Zahlen seien ja gut», erzählt Kaya. «Als dann die zweite Welle kam, hiess es, man habe keine Zeit.» Dies obwohl auch Bundesrat Alain Berset verschiedentlich dazu aufgerufen hat, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. «Aber der Bund verweist auf die Kantone und die Kantone zeigen auf den Bund.» Und die Macher der Swiss-Covid-App hätten sogar versucht, sie auszubremsen, um die eigene App auszubauen, aber ohne die Millionen von Daten, die in Restaurants freiwillig gesammelt werden. «Das macht nur Sinn, wenn dann ein Obligatorium kommt», sagt Kaya. Besser wäre es doch, die freiwillig vorhandenen Daten zu nutzen.
Bundesrat Alain Berset musste am Montag eine Frage von FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen beantworten. Doch konkret wird er darin nicht. Der Bund könne nur ein IT-System empfehlen, nicht aber vorschreiben. Wasserfallen genügt das nicht: «Die Kantone haben die Verantwortung für die Bekämpfung der Pandemie», findet er, «sie sollen die Daten nutzen, die es in der Privatwirtschaft gibt.»
Offener Brief an Berset
In einem offenen Brief fordern die zwölf App-Anbieter nun, dass der Bund und die Kantone vorwärtsmachen. «Digitalisierung ist in einer Pandemie eine riesige Chance, wird aber von der öffentlichen Hand viel zu wenig genutzt», schreiben Kaya und die anderen Anbieter darin. Es sei zwar richtig, wenn zum Schutz von Personen Lockdowns beschlossen würden. «Solche Massnahmen zu beschliessen, bevor man aber alle Möglichkeiten der Digitalisierung ausgenutzt hat, ist nicht intelligent.» Die Autoren fragen sich, wie man die digitale Sammlung der Daten von der Privatwirtschaft fordern könne und dann als öffentliche Hand die mögliche Geschwindigkeit wieder herausnehmen könne.
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