Bedrohung aus RusslandWill Putin wirklich Krieg gegen die Nato?
Ranghohe Politiker und Militärvertreter warnen vor einem russischen Angriff auf Nato-Staaten. Die Szenarien sind beunruhigend – aber sind sie auch realistisch?
Es gibt ein Wort, das in Europa beunruhigend oft zu hören ist. Geäussert wird es von ernsthaften Menschen, von Ministern und Generälen zum Beispiel, deren Aufgabe es eigentlich nicht ist, Furcht und Unruhe zu verbreiten – die jedoch offenbar das Gefühl haben, genau das tun zu müssen. Das Wort lautet: Krieg. Und die, die es sagen, beschreiben nicht den Krieg, den Russland derzeit gegen die Ukraine führt. Sondern einen Krieg, den Russland in nicht allzu ferner Zukunft gegen Staaten in Europa führen könnte, die der EU oder der Nato angehören.
Besonders offen ist dabei der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, der eher nicht zur Hysterie neigt. Deutschland müsse «kriegstüchtig» werden, forderte er kürzlich unumwunden. Man müsse damit rechen – und sich materiell und mental darauf vorbereiten –, dass der russische Diktator Wladimir Putin nach der Ukraine auch einen Nato-Staat attackieren werde. Pistorius nannte sogar einen Zeitrahmen, in dem ein russischer Angriff denkbar sei: fünf bis acht Jahre.
Finnische und baltische Politiker sagen das Gleiche
Der deutsche Minister ist längst nicht der einzige ranghohe europäische Regierungsvertreter, den ein Blick auf die Lage zu derartigen Warnungen veranlasst hat. Der niederländische Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, äusserte sich vor einigen Tagen ähnlich. Die Allianz müsse «das Unerwartete erwarten» und sich auf einen Krieg vorbereiten, sagte er. In Schweden schockierten unlängst der Generalstabschef und der für Zivilschutz zuständige Minister die Bevölkerung, als sie beide öffentlich von einem möglichen Krieg mit Russland sprachen. Finnische und baltische Politiker denken und sagen das Gleiche.
«Es scheint, als sei nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine langsam die Einsicht gereift, dass wir mit Russland ein Problem haben», sagt Minna Ålander, Expertin für europäische Sicherheitspolitik beim Finnish Institue of International Affairs in Helsinki. «Bisher dachte man: Vielleicht gibt es ja eine Lösung, wenn wir der Ukraine helfen. Jetzt ist klar: Wir haben keine andere Option, als uns auf den Ernstfall vorzubereiten.»
Der schnellste Weg wäre ein Angriff auf Artikel 5
Wie dieser Ernstfall aussehen könnte, skizzierte Anfang des Jahres ein europäischer Minister bei einem Gespräch in Brüssel: Wenn man annehme, so sein Szenario, dass Putin nicht nur die Ukraine erobern und als Staat vernichten, sondern die gesamte von den Vereinigten Staaten garantierte Sicherheitsordnung in Europa und der Welt zu Fall bringen wolle – dann sei der schnellste Weg zu diesem Ziel, den Artikel 5 des Nato-Vertrags zunichtezumachen. Dieser garantiert jedem Mitglied im Falle eines Angriffs militärischen Beistand durch alle anderen Mitglieder, in letzter Konsequenz also durch die Atommacht Amerika. Eine stärkere Hilfszusage gibt es in keinem Beistandsabkommen, das die USA mit anderen Ländern geschlossen haben – Artikel 5 ist der Goldstandard.
Entsprechend verlockend, so der Minister, wäre es für Wladimir Putin, Artikel 5 auf die Probe zu stellen und einen Nato-Staat zu attackieren. Natürlich sei das Risiko enorm – ein solcher Angriff könnte einen Atomkrieg zwischen den USA und Russland auslösen. Aber Putin könnte auch zu dem Schluss kommen, dass der Präsident in Washington, zumal falls er Donald Trump heisst, nicht New York opfern werde, um Riga, Vilnius oder Warschau zu retten.
Wann ist Russland fähig, Krieg gegen Europa zu führen?
Ob dieses Szenario realistisch ist, lässt sich schwer abschätzen. Putins aggressive Rhetorik deutet nach Lesart vieler Verteidigungspolitiker durchaus darauf hin, dass er nicht mehr nur an der Krim und einigen ostukrainischen Regierungsbezirken interessiert ist, sondern auch das Baltikum und andere Nato-Länder an der Ostflanke der Allianz in den Blick genommen hat, die einst zum Machtbereich der Sowjetunion gehörten.
Russland habe bisher zwar «die Nato-Grenze respektiert», sagt die Sicherheitsexpertin Ålander. Aber das sei keine Garantie für die Zukunft. «Es gibt zwei grosse Fragen: Wann ist Russland fähig, Krieg gegen Europa zu führen? Und wie gross ist die Unterstützung der USA für Europa? Wenn bei beidem der schlimmste Fall eintrifft, dann kann das Krieg bedeuten.»
Andererseits ist jedoch genau diese Frage nach der Kriegsfähigkeit Russlands entscheidend. Putins Absichten seien das eine, seine militärischen Kapazitäten etwas ganz anderes, sagt der Londoner Sicherheitsfachmann Franz-Stefan Gady, der regelmässig an der Front in der Ukraine ist und die russische Armee gut kennt. Er warnt vor Panik: «Jetzt Szenarien mit Zeitrahmen zu skizzieren, ist absurd. Es wird dabei immer unterschlagen, dass sich das auf die Zeit nach dem Ende des Kriegs in der Ukraine bezieht.»
Ob und wann Russland in der Lage sein werde, einen Nato-Staat ernsthaft zu bedrohen, hänge stark davon ab, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauere und wie hoch die Verluste der Russen dort seien, sagt Gady. Seine Prognose: Nach dem Ukraine-Krieg werde es fünf bis zehn Jahre dauern, bis Russland wieder eine Gefahr für die Nato sei. «Und das ist ja eigentlich komplett logisch.» Bis dahin müssten die Europäer massiv aufrüsten, sagt Gady.
Das nimmt den Warnungen von Politikern und Militärvertretern vor einem russischen Angriff ein wenig von ihrer unmittelbaren Dramatik. Sie seien, sagt die finnische Verteidigungsexpertin Ålander, wohl vor allem ein «Weckruf» an die Bevölkerungen in Europa – ein Versuch, argumentativ die Grundlage dafür zu legen, dass künftig mehr Geld für Rüstung ausgegeben werden müsse.
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