Australian Open in Melbourne«Lucky Lys» feiert historischen Erfolg
Als Lucky Loser ins Achtelfinale, das ist bei den Australien Open noch nie jemandem gelungen – bis Samstag. Eva Lys besiegt die Rumänin Cristian und trifft nun auf die fünfmaligen Grand-Slam-Siegerin Swiatek.
- Eva Lys erreicht als erste Lucky Loserin das Achtelfinale der Australian Open.
- Nach einem frühen Rückstand gewinnt Lys gegen Jaqueline Cristian in drei Sätzen.
- Trainer Torben Beltz motiviert Lys mit psychologischer Unterstützung beim Training.
- Lys trifft jetzt auf Iga Swiatek, bleibt aber selbstbewusst und gelassen.
Eva Lys sank erst auf die Knie, dann schlug sie ungläubig die Hände vors Gesicht: 4:6, 6:3, 6:3 hatte sie gerade gewonnen gegen Jaqueline Cristian (Rumänien). Nach dem Handschlag mit der Gegnerin am Netz lief sie mit Das-kann-doch-alles-gar-nicht-wahr-sein-Blick zu Mutter Maria und Schwester Bella, die juchzend auf der Tribüne auf eine Umarmung warteten. Die 22-Jährige hatte tatsächlich Unglaubliches, ja Historisches geleistet an diesem Samstag bei den Australian Open: Sie ist die erste sogenannte «Lucky Loserin» in der Geschichte des Grand-Slam-Turniers in Melbourne, die es bis ins Achtelfinale geschafft hat. «Es fühlt sich an wie ein Traum – das ist auf jeden Fall die beste Woche meiner Karriere», sagte sie danach.
„Lucky Lys“ wird sie auf der Anlage bereits gerufen angesichts der Tatsache, dass sie vergangene Woche in der letzten Runde der Qualifikation verloren hatte und ins Flugzeug nach Hause hätte steigen können. Sie blieb jedoch, rutsche aufgrund des späten Rückzugs von Anna Kalinskaja doch noch ins Hauptfeld. Seitdem gewinnt und gewinnt und gewinnt sie – so wie am Samstag auch die Drittrunden-Partie auf Court 3 gegen Cristian.
«Es war absolutes Chaos – und deshalb das Beste, was mit passieren konnte», hatte sie darüber gesagt, dass sie gerade mal 20 Minuten vor Beginn ihrer Erstrunden-Partie gegen die Australierin Kimberly Birrell erfahren hatte, dass sie doch noch an diesen Australian Open würde teilnehmen dürfen. Nach dem Zweitrunden-Sieg gegen Warwara Grachewa (Frankreich; 6:2, 3:6, 6:4) hatte sie dann schon ein bisschen anders geklungen: «Ich habe jetzt hier den Spitznamen Lucky Lys, das finde ich eigentlich super. Diese Einstellung, nichts zu verlieren zu haben, ist natürlich toll – aber irgendwann ist das dann auch kein Glück mehr. Ich habe eine mega-geile Chance hier, und die will ich auch nutzen.» Heisst übersetzt: Manchmal präsentiert einem das Leben unverhofft etwas Tolles auf dem Silbertablett – aber man muss dann eben auch bereit sein zuzugreifen. Es gibt genügend Leute, die dann verkrampfen und das Tolle beim Griff zum Tablett mit Zitterhand zerdeppern.
Locker bleiben also. Genau das versuchte der deutsche Bundestrainer Torben Beltz beim Training vor dieser möglicherweise historischen Partie zu vermitteln. Er muss in Melbourne als Aushilfs-Coach einspringen, weil Lys‘ Vater und Trainer Wladimir aufgrund beruflicher Verpflichtungen nach der Qualifikation zurück nach Deutschland hatte reisen müssen. Es war keine Trainingseinheit am Freitag, sondern eher ein lockeres Einschlagen, und vor allem: ganz viel Spass.
Beim Aufschlag-Üben retournierte nicht Beltz oder der zweite anwesende DTB-Trainer, sondern Schwester Bella – gefeiert wurden nicht gelungene Schläge der Profispielerin, sondern die (übrigens oft sehr guten) der kleinen Schwester. Dann, als Lys das Training bereits beendet hatte: ein paar Ballwechsel zwischen Beltz und Bella, und am Ende der Hinweis, dass Lys am nächsten Tag ganz sicher eine Chance habe, wenn sie so locker und selbstbewusst agiere wie die Schwester jetzt auf Trainingsplatz 22.
Lys beginnt mit Zitterhand
Genau das passiert dann am Samstag in der Mittagshitze von Melbourne, das Thermometer zeigte 34 Grad im Schatten. Ja, Lys begann mit Zitterhand. Sie lag schnell mit 1:4 zurück und wirkte kurz so, als würde sie gegen eine furios aufspielende Gegnerin diese tolle Gelegenheit wirklich aus der Hand fallen lassen. Das Erstaunliche in diesem Moment allerdings: Sie wurde nicht nervöser, sondern eher ruhiger. Und auch Beltz, die Mama und Schwester Bella auf der Tribüne blieben völlig gelassen. Den Schläger warf Lys nach drei vergebenen Breakchancen und dem anschliessend verlorenen ersten Durchgang eher aus Frust darüber, dass sie diesen Satz trotz Comeback und viel besserer Leistung tatsächlich verloren hatte.
Bei der Kommunikation zwischen Beltz und Lys – Coaching ist nun ja erlaubt im Profitennis – gab es dann wie im Training am Tag zuvor keine taktische Analyse, keine technischen Tipps. Vielmehr deutete Beltz an, dass die Schläge von Lys, die zu Beginn der Partie ein paar Millimeter im Aus gelandet waren, am Ende doch ins Feld segelten, und dass Cristian den Durchgang eher ins Ziel gerettet denn wirklich gewonnen hatte. Diese «Hab‘ weiter Spass, es läuft doch»-Botschaft von Beltz war ein formidabler psychologischer Kniff. Von Beginn des zweiten Satzes an dominierte Lys mit variablen Grundschlägen, die nun häufiger ins Feld fielen – und nun war plötzlich bei Cristian eine Zitterhand zu beobachten.
«Ich hatte nie das Gefühl, dass ich raus war – es waren kleine Fehler, der Ball war ein bisschen zu lang», sagte Lys danach beim Treffen mit Reportern: «Ich kenne sie ganz gut; ich wusste also, dass sie wackelt, wenn sie hinten liegt. Es war also wichtig, im zweiten Satz gleich in Führung zu gehen, und irgendwann wusste ich: Das werde ich nicht mehr verlieren.»
Die Rumänin wusste freilich, wie unbekümmert sich Lys bislang durchs Turnier gespielt hatte, und sie wusste deshalb auch: Wenn die 22 Jahre alte Deutsche derart beherzt nach dieser Gelegenheit greift, darf sie selbst nicht nervös werden – was einen ja häufiger noch mehr verkrampfen lässt. Und so war es auch: Lys schlug und schlug und schlug. 34 Gewinnschläge insgesamt jagte Lys übers Netz, Cristian schaffte nicht einmal die Hälfte – und genau das war am Ende (beide leisteten sich nämlich exakt die gleiche Anzahl an Fehlern: 64) der Unterschied: Es gewann die Forschere, die Aggressivere, die Unbekümmertere, und das war wieder mal: Lucky Lys.
Es ist kein Zufall mehr, was bei diesen Australian Open passiert. Es ist das beherzte Zugreifen einer, die, wie Lys sagt, diese mega-geile Chance nutzen will. Am Montag trifft Lys im Achtelfinale auf die fünfmalige Grand-Slam-Gewinnerin Iga Swiatek (Polen), die Emma Raducanu (immerhin US-Open-Siegerin 2021) mit 6:1, 6: 0 regelrecht vom Platz geschossen hatte. Lys hat das natürlich mitbekommen, nervös dürfte sie das allerdings nicht machen. Sie verhält sich seit einer Woche wie eine, die nichts zu verlieren, aber sehr viel zu gewinnen hat.
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