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Auschwitz-Überlebende ist Social-Media-Star
Mit Tiktok-Videos gegen das Vergessen der Shoa

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Holocaust survivor Lily Ebert, 97, and her great-grandson Dov Foreman chat about how she became a TikTok star
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«Nie wieder heisst nie wieder»: Wenige Tage nach dem Hamas-Massaker in Israel posiert eine hochbetagte Frau aus London für ein Foto, auf dem sie ein Blatt mit dieser Parole in die Kamera hält. Die Botschaft ist klar: «Nie wieder» darf nicht zur leeren Worthülse verkommen, es muss eine kollektive Verpflichtung sein zu einem konsequenten Vorgehen gegen den Vernichtungsantisemitismus, wie er sich am vergangenen 7. Oktober auf grausamste Weise entladen hat.

Die Frau auf dem Foto ist Lily Ebert, 100 Jahre alt und Holocaust-Überlebende, von denen es immer weniger gibt. Die in Ungarn geborene Frau hat Auschwitz überlebt. Seither engagiert sie sich öffentlich gegen das Vergessen der Shoa, wie der Holocaust in Israel heisst. Die Berichte von Zeitzeugen sind mit der Hoffnung verbunden, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen.

Tiktok-Kanal mit 2,1 Millionen Followern

Ihre Aufklärungsarbeit über den Holocaust betreibt Lily Ebert seit vier Jahren auf der Videoplattform Tiktok. Massgeblich daran beteiligt ist Dov Forman, ein 20-jähriger Urenkel Eberts. Mit ihren Videoclips ist die 100-Jährige zu einem Tiktok-Star avanciert: Sie hat rund 2,1 Millionen Follower, ihre Beiträge haben bisher etwa 45,8 Millionen Likes erhalten. Mit Tiktok erreicht sie weltweit ein junges Publikum. Grosse Verbreitung finden die Videos auch auf Twitter und Youtube.

Lily Ebert hatte sich als junge Frau selbst versprochen, dass sie ihre Erfahrungen der Holocaust-Zeit künftigen Generationen erzählen werde, solange sie lebe. «Die ganze Welt muss wissen, was wirklich passiert ist.»

In einem Video zeigt sie ihren linken Unterarm mit der tätowierten Häftlingsnummer A-10572. «In Auschwitz hatten wir keine Namen mehr, wir waren nur noch Nummern, keine Menschen mehr», erzählt die Shoa-Überlebende, «als Nummern wurden wir auch behandelt.» Die Nummerierung der KZ-Insassen erleichterte das fabrikmässige Morden. Nicht vergessen kann die Zeitzeugin den «fürchterlichen Gestank». Es habe ständig nach verbrannten Menschen gerochen. Im Holocaust haben die Nazis sechs Millionen Jüdinnen und Juden getötet.

Grossfamilie als Sieg über die Nazis

1944 wurde die damals 21-jährige Lily Ebert mit ihrer Mutter und vier Geschwistern in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen deportiert. Ihre Mutter, der Bruder und eine Schwester wurden in der Gaskammer ermordet. Sie selber und zwei weitere Schwestern wurden zunächst zur Zwangsarbeit in eine Munitionsfabrik bei Leipzig verlegt, danach auf einen der berüchtigten Todesmärsche geschickt, bis sie schliesslich, im März 1945, von amerikanischen Truppen gerettet wurden.

Nach der Befreiung bekam Lily Ebert von einem US-Soldaten eine Banknote geschenkt. Darauf stand gekritzelt: «Ein Start in ein neues Leben. Viel Glück und Freude.» Die junge Frau kam für ein Jahr in die Schweiz, ehe sie nach Israel ging. Sie heiratete und bekam drei Kinder. 1967 zog Ebert mit ihrer Familie nach London, wo sie bis heute lebt – umgeben von einer grossen Familie, zu der zehn Enkelinnen und Enkel sowie 37 Urenkelinnen und Urenkel gehören.

Als sie in Auschwitz gewesen war, hatte Lily Ebert gemäss eigenen Worten nicht geglaubt, dass sie den Naziterror überleben und eine eigene Familie haben würde. «Die Nazis wollten uns alle töten. Und wir haben gezeigt, dass es ihnen nicht gelungen ist», sagte sie einst. Dabei äusserte sie einen denkwürdigen Satz: «Babys sind die beste Rache an den Nazis.»

Beide haben den Naziterror überlebt: Reha Bennicasa (86, links) und ihre Mutter Rose Girone, mit 112 Jahren die älteste Shoa-Überlebende, leben in den USA.

Lily Ebert gehört zu den weltweit noch etwa 245’000 Überlebenden des Holocaust, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie im Hinblick auf den internationalen Holocaust-Gedenktag an diesem Samstag zeigt. Der 27. Januar ist der 79. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Die Demografiestudie zu den Shoa-Überlebenden stammt von der Jewish Claims Conference mit Hauptsitz in New York. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss jüdischer Organisationen, die mit Entschädigungs- und Sozialprogrammen die Überlebenden des Holocaust unterstützen.

Noch 200 Holocaust-Überlebende in der Schweiz

Gemäss der Studie sind die Shoa-Überlebenden in mehr als 90 Ländern zu finden. Mit 119’300 Jüdinnen und Juden leben knapp die Hälfte in Israel, gefolgt von den USA (38’400), Frankreich (21’900) und Russland (18’200). Das einstige Täterland Deutschland ist die Heimat von 14’200 Holocaust-Überlebenden. 17,5 Prozent beträgt ihr Anteil in Westeuropa und 18,1 Prozent in Nordamerika. Die Zahl der Holocaust-Überlebenden in der Schweiz schätzt die Studie auf 200.

Wie der Report «Jewish Holocaust Survivors» weiter zeigt, haben 95 Prozent der Überlebenden die Shoa als Kinder oder Jugendliche erlebt. 61 Prozent sind Frauen. Die jüngsten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind heute 77 Jahre alt, das Durchschnittsalter beträgt 86 Jahre. Die älteste überlebende Person heisst Rose Girone: Die gebürtige Polin ist 112 Jahre alt und lebt in New York.

«Die Zahl der Überlebenden wird von Tag zu Tag kleiner, und in vielen Ländern leben nur noch ganz wenige dieser aussergewöhnlichen Menschen», schreibt Michael Berenbaum, Professor für Judaistik an der American Jewish University in Los Angeles, in einem Begleittext zur Studie der Jewish Claims Conference. «Darum ist es so wichtig, dass wir von ihren Erfahrungen als Überlebende und von ihrer Resilienz lernen.» Besonders betont Berenbaum «unsere letzte Chance, diese Menschen zu würdigen, sie zu feiern und von ihnen zu lernen. Wir sollten uns alle fragen, was wir dafür tun können, bevor es zu spät ist.»

Hungarian-born Holocaust survivor Lily Ebert poses with her medal after being appointed a Member of the Order of the British Empire (MBE) following an investiture ceremony at Windsor Castle, on January 31, 2023. (Photo by Andrew Matthews / POOL / AFP)

Stellvertretend für die letzten Überlebenden hat Holocaust-Tiktokerin Lily Ebert in den letzten Jahren grosse öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Als sie am 29. Dezember 2023 ihren 100. Geburtstag feierte, würdigte sie auch König Charles. Sie habe ein vorbildhaftes Leben geführt, indem sie mit echter Grösse und ohne Hass an die unvorstellbaren Gräueltaten der Shoa erinnert habe, deren Zeuge sie geworden sei. «Ihre aussergewöhnliche Geistesstärke, ihre Widerstandskraft und ihr Mut finden grössere Bewunderung, als ich es ausdrücken kann», schrieb der britische Monarch über Lily Ebert.

Nachzulesen ist ihre ganze Geschichte im Buch «Lilys Versprechen», das sie vor zwei Jahren – nach einer überstandenen Covid-Erkrankung – mit ihrem Urenkel Dov Forman veröffentlicht hat. In ihrem Bestseller erzählt Lily Ebert, wie sie Auschwitz überlebte und die Kraft zum Leben fand.