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Aufregung um einen Bart

Justin Trudeau während einer Medienkonferenz am 11. Januar 2020. Foto: Sean Kilpatrick, Keystone
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«Wann ist ein Bart mehr als ein Bart? Wenn er im Gesicht von Justin Trudeau steht», schreibt ein kanadischer Kommentator. Tatsächlich ist die Aufregung in Kanadas Öffentlichkeit gross, seit Premierminister Trudeau nach seinen gut zweiwöchigen Ferien in Costa Rica mit einem typischen Hipster-Bärtchen zurückgekehrt ist: Gestutzt, gestriegelt, gepflegt; um den Mund und die Wangen hoch sind die Haare eher schwarz, um die Kinnpartie eher grauweiss. Die sozialen Medien haben ein heftig debattiertes Thema, politische Freunde und Gegner, Journalisten und Stilexperten melden sich zu Wort.

Der Grundtenor: Der kanadische Politiker ist so sehr auf sein Image und auf Äusserlichkeiten bedacht, dass sein neuer Look niemals einer Ferienlaune, sondern wohlüberlegtem politischem Kalkül entsprungen ist. Trudeau versuche, reifer, verantwortungsbewusster und staatsmännischer zu wirken. Er wolle während seiner zweiten Amtszeit das Image als jugendlicher Schönling ablegen oder zumindest relativieren. Viele Kommentare auf Twitter, Instagram und anderen sozialen Medien deuten darauf hin, dass ihm dies durchaus gelingen könnte.

Besser Haare als Farbe im Gesicht

Eine zusätzliche Interpretation liefert eine Journalistin des Onlinemagazins «Slate». Trudeau ist vergangenes Jahr als unsensibler Zeitgenosse oder sogar als Rassist kritisiert worden, weil alte Fotos und Videos von Studentenpartys auftauchten. Darauf erschien der künftige Politiker verkleidet als Afrikaner oder Araber, mit braun oder schwarz angemaltem Gesicht. Trudeau musste sich für die Jugendsünde des sogenannten Blackfacing entschuldigen. Und nun, so die These der «Slate»-Journalistin, wolle er erreichen, dass beim Googeln der Stichwörter «Trudeau» und «face» etwas anderes zuoberst auf der Trefferliste stehe als jene leidigen Geschichten.

Die konservative Senatorin Denise Batters giftelte gegen den linksliberalen Politiker auf Twitter: «Es ist bezeichnend, dass die einzige News über den ersten Arbeitstag von Premierminister Trudeau ein Bart ist.»

Haben die Kanadierinnen und Kanadier nichts Wichtigeres zu debattieren? Die Frage mag berechtigt erscheinen, doch beschäftigt der neu gesprossene Bart einer öffentlichen Person die Menschen auch in anderen Ländern, ja, oft wühlt er sie geradezu auf. Das war etwa bei mehreren Schweizer Fernsehmoderatoren so. Oder als der demokratische US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Al Gore ein Jahr nach seiner knappen Niederlage bei den Wahlen 2000 mit einem Vollbart in die Öffentlichkeit zurückkehrte. «Exilbart» wurde das Gewächs des Gescheiterten genannt und psychologisch mit seiner historischen Schlappe in Verbindung gebracht. Oder als sich der damalige republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses Paul Ryan 2015 einen Bart wachsen liess.

Bart oder nicht Bart – das ist eine ästhetisch, psychologisch, politisch und historisch wichtige Angelegenheit. Seit der Jahrtausendwende sind Bärte in allen Formen und Längen in Mode. In einer Studie wurden 351 Frauen Fotos von Männern mit keinem oder unterschiedlich langem Bart vorgelegt. Am attraktivsten wurden jene mit mittellangen 10-Tage-Bärten eingestuft.

Zeichen für Revoluzzertum

Laut dem britischen Fernsehsender BBC ergab eine medizinische Studie, dass Männer mit Bärten deutlich weniger resistente Keime im Gesicht tragen als glattrasierte, wahrscheinlich, weil durch das Rasieren kleinste Verletzungen entstehen.

Anders als es die gegenwärtige Dichte an Bärtigen vermuten lässt, ist laut dem amerikanischen Historiker Christopher Oldstone-Moore das Barttragen in der Geschichte des Westens zumeist als verdächtiges Zeichen für individualistisches Aufwieglertum und revolutionären Trotz betrachtet worden. Und als unhygienisch. Der albanische Diktator Enver Hoxha hat Bärte verboten, die britische Premierministerin Margaret Thatcher soll gesagt haben, niemals würde sie einen bärtigen Politiker in ihr Kabinett berufen.

Daneben gibt es auch Regimes wie jenes der Taliban in Afghanistan, die das Tragen von Bärten aus religiösen Gründen für obligatorisch erklärten.

Die krankhafte Angst vor Bärten, deren Trägern oder auch dem eigenen Bartwuchs heisst Pogonophobie. Der letzte US-Präsidentschaftskandidat mit Gesichtshaar war Thomas E. Dewey in den 1940er-Jahren, und seit mehr als 100 Jahren hat es kein kanadischer Premier gewagt, Haare im Gesicht zu tragen. Insofern wirkt Trudeaus neuer Look zwar modisch und seriös, hat aber historisch gesehen auch einen Hauch von unbekümmertem Individualismus. Eine perfekte Kombination.