Essay über digitale GesundheitBildschirme sind allgegenwärtig. Wie wir Aufmerksamkeit bewusster lenken lernen
Informationen und Werbung werden einem mit zunehmender Penetranz ins Gehirn gepresst. So verliert man trotzdem nicht den Verstand.
- Die Aufmerksamkeitsökonomie hat sich zu einer billionenschweren Industrie entwickelt.
- Experten warnen, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne auf ein Rekordtief gesunken sei.
- Bildschirme im öffentlichen Raum fördern oberflächlichen Konsum statt tiefes Verständnis.
- Politik und Gesellschaft sollten gegen die Informationsüberflutung vorgehen.
Auf einem der vielen flimmernden Bildschirme, die einem an einem durchschnittlichen Tag vor die Augen kommen, steht ein Zitat des Philosophen Georg W. F. Hegel: «Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.»
Doch Leere gibt es nicht mehr. Schon im öffentlichen Nahverkehr starrt man wie ein Kaninchen vor der Schlange auf Bildschirme. Wenig später in der Apotheke. «Welcher Fisch enthält am meisten Omega-3-Fettsäuren?» Nichts könnte einem egaler sein, trotzdem fängt man an, darüber nachzudenken, während man in der Schlange neben dem Bildschirm bei der Kasse steht.
Mit zunehmender Penetranz wetteifern alle Content-Kreatoren dieser Welt um die letzten Fitzelchen der menschlichen Aufmerksamkeit. Historiker D. Graham Burnett nannte das in der «New York Times» das «Fracking des Verstands». Eine perfekte Metapher für das, was heutzutage mit den Gehirnen passiert. Früher haben Firmen Brunnen in Rohölvorkommen gebohrt, zack, schoss das Material zur Oberfläche. Doch diese Quellen gehen zur Neige. Wer heute noch fossilen Brennstoff fördern will, muss die verbliebenen Reste aus dem Gestein pressen, und was herauskommt, ist eine Mischung aus Wasser, Lösungsmitteln, Schmutz und Öl.
Viele Menschen erinnern sich an ihre persönliche Vor-Smartphone-Ära als Zeit, in der sie ständig dicke Romane gelesen, lange Filme geschaut und gute Gespräche geführt haben. Das ist nicht nur Verklärung, Zahlen zeigen, dass immer weniger Bücher gelesen werden.
Aufmerksamkeit ist eine wertvolle Ressource
Der Miterfinder des Konzepts der Aufmerksamkeitsökonomie, Michael Goldhaber, prophezeite schon 1997, dass Aufmerksamkeit das Geld als relevante Messgrösse ablösen werde. Ist es nun so weit? Eine Gegenwart, in der man für medienfreie Räume auf 3000 Meter hochkraxeln oder kilometerweit aufs Meer hinaussegeln muss, kommt dem ziemlich nahe.
Im Deutschen «schenkt» man Aufmerksamkeit, im Englischen «bezahlt» man sie, auf Spanisch und Italienisch wird sie «geliehen». All das klingt, als handle es sich dabei um eine messbare, berechenbare Ressource, mit der gehandelt werden kann. Und in gewissem Sinne ist es auch so: Die Vereinten Nationen schätzen das globale Volumen der Aufmerksamkeitswirtschaft auf mehrere Billionen. Dieses Geld wird bezahlt, damit Menschen etwas sehen, hören, anklicken – also bestimmte Inhalte in ihr Gehirn lassen.
Kampf zwischen kontrollierter und stimulierter Aufmerksamkeit
Die US-Psychologin Gloria Mark unterscheidet dabei zwischen kontrollierter Aufmerksamkeit, die man bewusst auf einen bestimmten Inhalt richtet, und stimulierter Aufmerksamkeit, die von äusseren Reizen (ab)gelenkt wird. In ihrem Bestseller «Attention Span» fasst sie ihre Erkenntnisse aus jahrzehntelanger Forschung zusammen und beschreibt den konstanten Kampf zwischen den beiden Formen. Es ist schliesslich kein Konstruktionsfehler, dass Menschen sich ablenken lassen, im Gegenteil. Wer zu fokussiert auf die Jagd nach dem Gnu war und das Rascheln im Gebüsch nicht hörte, wurde vom Säbelzahntiger aufgefressen.
All das Blinken und Piepsen sind Versuche, den Fokus des Publikums in die eigene Richtung zu lenken. Die Werbung macht das, seitdem es sie gibt. Doch auch Informationsmedien können sich kaum noch entziehen, weil sie sonst nicht mehr wahrgenommen werden. Warum haben Sie sich entschieden, Ihre wertvolle Aufmerksamkeit diesem Text zu widmen? In jedem Fall: Es ist grossartig, dass Sie schon mehrere Minuten beim Thema geblieben sind.
Das ist keine kleine Leistung, vor allem, wenn Sie auf einem digitalen Gerät lesen. Gloria Marks Forschung zufolge ist die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne vor Bildschirmen mittlerweile auf 47 Sekunden gefallen. Vor zwanzig Jahren lag sie noch bei 150 Sekunden, die Tendenz ist weiter sinkend.
Je mehr Stress, desto mehr Herumgeklicke auf dem Smartphone
Es sind nicht nur Reize von aussen, die einem die Konzentration zerhäckseln. Wer am PC arbeitet, nennt zwar eingehende E-Mails und Chat-Nachrichten als grösste Störfaktoren. Schaltet man diese jedoch aus, beginnen die Mitarbeiter, sich selbst regelmässig zu unterbrechen, und schauen fast genauso oft in die jeweiligen Programme wie zuvor. Einer Studie von 2018 zufolge wechselt der durchschnittliche Büromensch jeden Tag mehr als 1100-mal zwischen 35 arbeitsrelevanten Apps hin und her. Privat betrug die Smartphone-Nutzung 2024 etwa drei Stunden am Tag, 101-mal wechselt man in dieser Zeit die Anwendung.
Das stresst – und aus der Psychologie ist bekannt, dass Stress die kognitive Steuerungsfähigkeit des Gehirns einschränkt. Die Folge? Noch mehr impulsives Herumzappen, Herumsurfen, Herumklicken.
Historiker D. Graham Burnett kritisiert jedoch die verbreitete Vorstellung, dass allein soziale Netzwerke und gewissenlose Techgiganten die Aufmerksamkeit der Menschen auf dem Gewissen haben. «Menschen erschaffen die Technologien – und sie erschaffen sie, weil andere Menschen bestimmte Bedürfnisse und Wünsche haben», schreibt er in der Einleitung zur Essay-Sammlung «Scenes of Attention». Der Professor an der Universität Princeton betont darin das menschliche Bedürfnis nach mehr Tempo, mehr Effizienz, mehr Informationen, schlicht nach mehr, mehr, mehr.
Wäre der Mensch nicht so gestrickt, er würde wohl noch in Höhlen hocken und Gnus jagen. Doch nun kommt das olle Steinzeitgehirn nicht mehr mit der Reizüberflutung klar.
Wer Schlagzeilen nur snackt, verzweifelt irgendwann an der Welt
Was tun? Zum einen hilft vielleicht eine Reflexion darüber, was Aufmerksamkeit überhaupt ist. Nämlich nicht ausschliesslich der volle Fokus auf etwas maximal Kluges oder mindestens Produktives, den viele als Idealzustand verstehen. Das menschliche Gehirn ist dazu Gloria Mark zufolge gar nicht in der Lage. Stattdessen wechseln sich fokussierte Phasen mit solchen ab, in denen man halb automatisch Routineaufgaben abspult – dazu gehört für Psychologin Mark auch, den Verstand beispielsweise mit Rätseln wie Sudoku oder Spielen wie «Candy Crush» zu entspannen.
Wichtig sind zudem Phasen der Leere, ganz ohne Input. Dafür rät die Psychologin zu Frischluft, Spaziergängen, Gesprächen mit Freunden, Sport – also letztlich zu dem, was immer gegen und für alles empfohlen wird. Vielleicht sollte man also wirklich mal rausgehen, ohne Handy, und dann hoffen, dass nicht an der nächsten Ecke ein Bildschirm einem die aktuellen Leichenzahlen aus Gaza entgegenschleudert.
All die Schlagzeilen-Snacks, die im öffentlichen Raum so serviert werden, führen schliesslich nicht dazu, dass die Menschen besser Bescheid wissen oder sich mehr dafür interessieren, was in der Welt vorgeht. Das Gegenteil ist der Fall. Nachrichten, die nur als Problemhappen gereicht werden, ohne tiefergehende Erklärung oder gar Lösungsansätze, bewirken, dass Menschen die Welt negativer sehen, als sie tatsächlich ist. Laut dem aktuellen Reuters Digital News Report sagen 41 Prozent der Befragten, dass sie erschöpft von der Menge der Nachrichten sind. Viele davon wenden sich daher von Informationsmedien ab.
Doch genauso wie man durchaus manchmal in der Lage ist, sich die Chips zu verkneifen, um nachher noch Appetit aufs Abendessen zu haben, kann man auch Inhalte sorgsamer auswählen. «Die meisten Menschen machen sich über ihre Ernährung Gedanken. Mindestens genauso viel sollten sie sich damit beschäftigen, was sie in ihre Köpfe lassen», sagt Maren Urner, Professorin für Nachhaltige Transformation an der Fachhochschule Münster. «Unsere Aufmerksamkeit und unsere Zeit ist schliesslich die wertvollste Ressource, die wir haben – wertvoller als Rohöl.»
In ihren Büchern «Schluss mit dem täglichen Weltuntergang» und «Raus aus der ewigen Dauerkrise» gibt Urner zahlreiche Tipps für bessere Gehirnhygiene, zum Beispiel den, Tagebuch darüber zu führen, wann und wo einem Inhalte begegnen, die man nicht konsumieren will. Dabei ist der Neurowissenschaftlerin aber auch folgender Punkt wichtig: «Den Menschen einfach zu sagen, schalte dein Handy aus, dann geht es dir gut, individualisiert ein strukturelles Problem.» Gegen all die Infoscreens und Werbebanner im öffentlichen Raum, gegen die Übermacht der Algorithmen könne der Einzelne wenig ausrichten. Urner sieht die Verantwortung daher auch bei Politik und Unternehmen, den Kommunen und Sendern. Gegen Informationsverschmutzung vorzugehen, ist ihrer Meinung nach eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.
Den nächsten Korb Wäsche, den hängt man trotzdem vorsichtshalber mal ohne Podcast auf den Ohren auf. Schliesslich stand letztens auf dem Bildschirm im Tram ganz richtig dieses Zitat von William James, dem Begründer der wissenschaftlichen Psychologie: «Unser Leben ist nichts anderes als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.» Und das kann auch mal gar nichts sein.
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