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Meinung

Armut in der Schweiz
Wir alle sind gegen Armut und wollen selbstbestimmt in Wohlstand leben

Eine Frau traegt ein Einkaufskorb mit Fruchten im Aldi Filliale am 22. August 2019 in Ingenbohl. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
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Armut und Abstiegsängste sind in der Schweiz ein Thema. Das klingt auf Anhieb beunruhigend. Aber eigentlich ist es eine gute Nachricht, dass über die Armut und die damit verbundenen Ängste gesprochen wird: Es zeigt, dass es den allermeisten von uns nicht egal ist, wenn in einem der reichsten Länder der Welt noch immer fast eine halbe Million Menschen um das Nötigste kämpfen müssen.

Die bewegenden Berichte, die letzte Woche im «Magazin» erschienen sind, sensibilisieren für die Situationen der Betroffenen und helfen, die Armut zu entstigmatisieren. Sie machen bewusst, wie wenig schieflaufen muss, damit jemand in die Armut rutscht: ein Unfall, eine Krankheit, ein Schicksalsschlag – und wie schwierig es dann werden kann. 

Gewiss, gemäss Statistik steht die Schweiz mit einer Armutsquote von etwas mehr als fünf Prozent so gut da wie kaum ein anderes Land. Aber angesichts der seit drei Jahren abnehmenden Kaufkraft haben viele die begründete Sorge, ebenfalls schon bald ums Nötige kämpfen zu müssen – und in die Schicht der Armutsbetroffenen und der Einkommensschwachen zu rutschen.

Diese Sorge steht im Widerspruch zum Glücksversprechen, auf dem unsere Gesellschaft wesentlich baut: dass alle mit einer Arbeitsbiografie ein selbstbestimmtes Leben in Wohlstand führen können. 

Dieses Glücksversprechen ist schon vor Jahren brüchig geworden: Die den Boomer-Jahrgängen nachfolgenden Generationen müssen davon ausgehen, dass sie die Ersten sind, denen es bezüglich Wohlstand nicht besser geht als ihren Eltern und Grosseltern. Schon jetzt bewahrheitet sich diese Befürchtung in der Frage des Wohneigentums, das sich angesichts steigender Mieten und Wohnungsknappheit nur mehr wenige Jüngere leisten können. Es ist keine übertriebene Sorge, dass in Zukunft weitere Abstriche gemacht werden müssen, etwa bei der Gesundheitsversorgung. 

Insofern ist es gut, dass die Abstiegsängste des Mittelstands nun ein Thema sind. Allerdings begegnen uns diese Ängste oft nur maskiert: in Sündenbock- und Scheindebatten. 

In den Sündenbockdebatten wird die Schuld für Probleme bei anderen gesucht – oftmals bei Ausländern und anderen Minderheiten. Und statt dass wir echte Lösungen für reale Probleme diskutieren, ergehen wir uns in hitzigen Debatten über Scheinprobleme wie Gendersprache. Eine wesentliche Mitschuld daran tragen soziale Medien von Zerstreuungsunternehmern wie Elon Musk und Mark Zuckerberg: Sie leben von der Bewirtschaftung solcher Triggerthemen mithilfe von Algorithmen; im Fall von Mark Zuckerberg haben sie ihn reich gemacht. 

In den letzten Jahren ist definitiv zu viel Energie in das Klein-Klein der erschöpfenden Scheindebatten geflossen. Damit ging nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für die grossen sozialen Fragen verloren, die sich nun angesichts der Energieknappheit, Wohnungsnot und sinkender Kaufkraft so kraftvoll zurückmelden. Und in denen es ja eigentlich immer einen Konsens gab: Wir alle sind gegen Armut. Und wir alle wollen selbstbestimmt in Wohlstand leben. 

Mit der Geisselung von Sündenböcken können diese grossen Probleme nicht gelöst werden. Dafür sind sie zu komplex: Mit der Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge und den global sinkenden Geburtenraten wird sich das grenzübergreifende Gerangel um Fachkräfte zuspitzen. Und die Schweiz wird auch in Zukunft auf Migration angewiesen sein, wenn sie die Altersvorsorge sichern will. 

Mit der Abstimmung über die 13. AHV-Rente hat sich auch gezeigt, dass es das grosse Bedürfnis gibt, sich gegenüber Abstiegsängsten im Alter abzusichern. Die Debatte über die Finanzierung dauert noch an. Einfache Lösungen wird es auch in Zukunft nicht geben. Aber dafür sind funktionierende Demokratien da: um gemeinsam Probleme zu lösen, die zu gross und komplex für die Einzelnen sind. Die Armut gehört definitiv zu diesen Problemen dazu.