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Militärexperte im Interview
«Dann hat die Schweiz ein ernst­haftes Sicher­heits­problem»

Eine Hauserkampf Uebung in der Grenadier Rekrutenschule in Isone am 02. Juli 2013. Die Rekruten bereiten sich und ihre Waffen auf die bevorstehende Uebung vor.
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Herr Holenstein, Armeechef Thomas Süssli sagt, er könne die finanzielle Situation der Armee nicht mehr verantworten. Dramatisiert er die Lage?

Ganz und gar nicht. Wenn es uns nicht gelingt, die Militärausgaben bis 2030 auf ein Prozent des Bruttoinland­produkts (BIP) zu erhöhen, dann hat die Schweiz ein ernsthaftes Sicherheitsproblem. Ich verstehe den Chef der Armee, wenn er sagt, dass er das nicht verantworten kann.

Wo fehlt das Geld?

An allen Ecken und Enden, primär aber bei den schweren Bodensystemen, wie etwa bei der Artillerie, der Panzer­abwehr und den Panzern. Wenn wir hier nicht schnell und massiv investieren, brechen uns die Systeme des Heeres komplett weg, zumindest temporär. Bis Anfang 2030 braucht die Armee dringend 13 Milliarden Franken, um Artillerie und Panzer zu ersetzen.

Sie übertreiben. Der Kauf der F-35A-Kampfjets zum Beispiel läuft nach Plan.

Zum Glück! Immerhin investieren wir in eine funktionierende Luftwaffe und Luftverteidigung. Aber auch bei der Cyberabwehr, der vernetzten Führung und der Kommunikationstechnologie müssen wir rasch mehr investieren. Das Gerippe Armee als Gesamtsystem funktioniert im Prinzip. Aber die Systeme kommen allesamt an ihr Nutzungsende. Wie der Krieg in der Ukraine zeigt, sind dies essenzielle Mittel und Systeme.

Welche Waffen braucht es jetzt?

Das moderne Gefechtsfeld sieht heute nicht viel anders aus als zu Zeiten des Kalten Kriegs. Besonders wichtig sind nach wie vor weitreichende Abstandswaffen wie die Artillerie, mechanisierte, robuste Mittel wie Panzer, Kampfflugzeuge und die Boden-Luft-Luftabwehr. Dazu kommen die neuen Technologien wie Cyberabwehr und insbesondere die Minidrohnen. Aber: Der Kauf von mehr und neuen Drohnen ist im ersten Finanzierungsschritt von 13 Milliarden noch nicht enthalten!

Der Bundesrat gibt das Ein-Prozent-Ziel für die Militärausgaben nicht auf, sondern verschiebt es nur um fünf Jahre. Das kann nicht so dramatisch sein.

Diese Verschiebung hat einen unglaublich grossen, finanzpolitisch ausgewiesenen Effekt. Wenn die Investitionen bis 2035 um so viel langsamer wachsen, führt das zu einer Reduktion von rund 11,7 Milliarden – diese sind unwiderruflich weg. Die Folgen für die Armee sind katastrophal.

Viola Amherd ist die erste Verteidigungs­ministerin seit Jahrzehnten, die das Armeebudget erhöht hat. Einverstanden?

Ja, das hat sie. Leider aber nicht bis spätestens 2030, sondern erst bis 2035. Das ist schlicht ungenügend. Ich erinnere daran, dass wir budgetmässig bei der Armee von einem sehr tiefen Niveau herkommen. Frau Amherd hat es kürzlich selbst gesagt: Die Armee wurde in den letzten Jahren kaputtgespart. Eine «Mini-Budgeterhöhung» bis 2035 reicht nirgends, erst recht nicht im internationalen Vergleich.

Wo stehen wir da?

Sehr schlecht. In Europa hat meines Wissens kein vergleichbares Land geringere Armeeausgaben als wir. Zugespitzt gesagt: Nur der Vatikan gibt weniger für seine Verteidigung aus als die Schweiz. Die meisten Länder – auch das von uns armeemässig oft belächelte Österreich – erhöhen ihre Verteidigungsausgaben jetzt massiv, meist über 1,5 Prozent des BIP. Der Krieg in der Ukraine hat bei ihnen zu einem Umdenken geführt.

Bundesrätin Amherd hat sich nicht gegen die Verschiebung des Ein-Prozent-Ziels um fünf Jahre gewehrt. Sind Sie enttäuscht von der Verteidigungsministerin?

Wenn dem tatsächlich so ist, sage ich es Ihnen offen und ehrlich: Wir sind sehr enttäuscht!

Hintergrund der Verschiebung ist ja, dass dem Bund das Geld ausgeht. Es drohen Milliarden­ausfälle in den nächsten Jahren. Wo soll der Bund sparen, um die Militärausgaben zu erhöhen?

Der Bund gibt jährlich fast 90 Milliarden Franken aus. Ich sehe etliche Sparmöglichkeiten, etwa beim Verkehr, bei der Energie, in der Landwirtschaft.

Mit solchen Ideen stossen Sie überall auf Widerstand.

Ich weiss, das schmerzt. Aber bei der sich verschärfenden Sicherheitslage in Europa muss die Armee finanzpolitische Priorität haben. Es geht um die Sicherheit unserer Schweiz!

Der Bundesrat verweist auf die Schuldenbremse, die in der Verfassung verankert ist.

Natürlich verstehe ich das Dilemma des Bundesrats. Aber die Verteidigung der Schweiz ist der verfassungsmässige Kernauftrag der Armee. Es gibt kein Land der Welt, das seine Sicherheitspolitik der Schuldenbremse unterstellt.

Die Bundesraetin Viola Amherd, links, wird mit einem Kugelschreiber beschenkt, von Praesident des SOG, Stefan Holenstein, rechts, anlaesslich der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Offiziersgesellschaft SOG vom Samstag, 16. Maerz 2019 im Kloster Einsiedeln. (KEYSTONE/Urs Flueeler)

Sie wären also für eine Aufhebung der Schuldenbremse, um die Aufrüstung der Armee voranzutreiben?

Zumindest für eine Lockerung. Mit Schulden können wir umgehen, aber die Sicherheit der Schweiz ist nicht verhandelbar. Es gibt andere Wege. Ein konventioneller, wenn auch unbeliebter wäre eine zeitlich befristete Wehrabgabe via Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Was tun Sie, wenn der Bundesrat nicht auf Sie hört?

Wir Milizverbände wollen unsere Mitverantwortung wahrnehmen und denken ernsthaft über eine Volksinitiative nach. Damit könnten wir in der Verfassung verankern, dass die Ausgaben für die Armee mindestens 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen müssen. Das wäre ein langer Weg, weshalb wir zuerst politische Lösungen suchen.

Also soll nun das Parlament die Militärausgaben erhöhen.

Richtig. Dazu müsste sich die bürgerliche Mehrheit im Parlament, SVP, FDP, Mitte und GLP, zusammenraufen.

Wenn sie das nicht tun, werden Sie dann tatsächlich die Initiative lancieren?

Wir scheuen uns keineswegs davor, haben das intern schon diskutiert, und ich bin auch in Gesprächen mit Politikern auf Verständnis gestossen.

Sind die von Ihnen präsidierten Milizverbände überhaupt initiativfähig?

Der Verband Militärischer Gesellschaften hat gegen 100’000 Mitglieder. Und wir haben ein Netzwerk von befreundeten Verbänden wie die Schweizerische Offiziersgesellschaft mit rund 20’000 Mitgliedern und vor allem die Schützenvereine mit über 150’000 Mitgliedern. Als Kampagnenorganisation wäre die Allianz Sicherheit Schweiz parat. Ich denke, wir hätten die 100’000 Unterschriften schnell zusammen.

Dann müssten Sie den Stimmbürgern erklären, warum die militärische Sicherheit wichtiger sein soll als die Altersvorsorge und die soziale Sicherheit.

Ohne militärische Sicherheit gibt es kein stabiles, liberales und wertebasiertes gesellschaftliches Zusammenleben. Ohne das Bewusstsein, dass wir uns verteidigen können, dass wir unsere freiheitliche Gesellschaft selber organisieren können, sind auch unsere Sozialwerke infrage gestellt.

Sie reden, als ob die Schweiz morgen in einen Krieg verwickelt würde.

Ich bin sehr besorgt über die Lage in Europa. Aber eine hochkritische Situation entsteht schon, wenn ein Übergriff auf ein Nato-Land erfolgen sollte. Das könnte zu einer gefährlichen, eskalierenden Destabilisierung in Europa führen, die uns nicht mehr nur mittelbar, sondern unmittelbar bedroht – militärisch, wirtschaftlich, sozial.

Ist es nicht ohnehin illusorisch, dass sich die Schweiz in einem solchen Fall allein verteidigen könnte?

Ja, ohne internationale Zusammenarbeit wird es bestimmt nicht gehen. Wahrscheinlich müssen wir dann in einem Bündnisfall auch mit anderen zusammenarbeiten.

Wenn wir uns im Kriegsfall mit anderen Ländern zusammentun, müssen wir nicht selbst aufrüsten, oder?

Exakt falscher Zirkelschluss! Wir können als eines der reichsten Länder nicht die Verteidigung herunterfahren und denken, die Nato hilft uns dann schon. Da gibt es kein Trittbrettfahrertum. Nein, wir müssen selbst einen Beitrag an die europäische Sicherheitsarchitektur leisten. Nur dann sind wir glaubwürdig.