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Neuer Roman von Annette Mingels
Egoismus muss mit Einsamkeit bezahlt werden

Wer Philip Roths «Jedermann» (2006) kennt, wird an dieses grossartige Porträt eines ähnlichen Männer-Typus erinnert werden. Analogie, kein Vergleich: Die deutsch-schweizerische Autorin Annette Mingels.

Der «alte weisse Mann» – der ist, glaubt man einem gegenwärtigen Diskurs-Mainstream, an allem schuld, was unsere Welt so schlecht macht: Naturzerstörung und Ausbeutung, Rassismus und Sexismus sowieso. Das ist natürlich ein Zerrbild, ein Popanz. Annette Mingels, deutsche Autorin mit Schweizer Pass, hat sich in ihrem neuen Roman in einen solchen alten weissen Mann hineinversetzt – und siehe da, es ist ein Mensch.

Ihre Romanfigur erfüllt objektiv alle Kriterien der Kategorie alter weisser Mann: Carl Kruger ist 80, war als Universitätsprofessor (Chemie) beruflich erfolgreich, hat neben einer jahrzehntelangen Ehe etliche Affären mit Studentinnen oder Assistentinnen gesammelt, also Macht oder Attraktivität seiner Position ausgenutzt; über Zustand und Zukunft der Erde hat er sich wenig Gedanken gemacht, jedenfalls keine Konsequenzen für seinen Lebensstil gezogen.

Die schärfste Kritikerin ist seine Adoptivtochter

Subjektiv ist das natürlich ganz anders: Für Carl Kruger waren es doch immer «die Frauen, diese unergründlichen, liebesbegabten Wesen, die sich ihm immer wieder überraschend freigebig zuwandten, während ihm keine andere Wahl blieb, als sich von ihnen in jede gewünschte Richtung lenken zu lassen». Für ihn bedeutet jede neue Affäre einen Moment des Aufbruchs, der Hoffnung, für ihn, den Glückssucher, als den er sich selbst wahrnimmt.

Als er in einer öffentlichen Diskussion den Standpunkt vertritt, auch die Studentinnen hätten diese Affären gesucht und davon profitiert, schlägt ihm die geballte Missbilligung des Publikums entgegen: Carl begreift, dass er aus der Zeit gefallen ist, eine Unperson.

Dass er sich einen Hund zulegt und mit seiner Restfamilie doch ab und zu zusammenkommt, sind sozusagen milde Gaben der Autorin.

Bisher hatte er den Spiegel, der ihm durchaus auch schon von seiner Umgebung vorgehalten wurde, zu ignorieren versucht. «Du bist einfach ein Mann, der meint, alles auf einmal haben zu können», fand etwa Helen, seine vielfach betrogene Frau. Kollege Trevor hat ihn als oberflächlichen Don Juan zur Hauptfigur eines Romans gemacht. Und seine schärfste Kritikerin ist ohnehin seine Adoptivtochter Lisa. «Ihrer Meinung nach vereinte er sämtliche Fehler alter Männer in sich.» Trotzdem liebt Lisa ihren Vater und steht ihm bei, als er sich nach dem Tod seiner Frau gehen lässt.

Eigentlich ist es das Leben, sind es nicht die Vorhaltungen seiner Umwelt, was Carl zur Selbstbefragung zwingt. Den Egoismus, der sein Leben unbewusst und unreflektiert geleitet hat, bezahlt er nach Helens Tod mit Einsamkeit, einer Einsamkeit, so quälend, dass sie ihm manchmal den Atem nimmt. Seine Sozialkontakte sind auf ein Minimum geschrumpft, die täglichen Spaziergänge durch die US-Kleinstadt Montclair nahe New York (wo die Autorin einige Jahre gelebt hat) sind nicht mehr als zwanghafte Routine.

Dass er sich einen Hund zulegt und mit seiner Restfamilie doch ab und zu zusammenkommt, sind sozusagen milde Gaben der Autorin. Die riskiert im Nachzeichnen des Alters- und Alltagstrotts eine gewisse Gemächlichkeit der Lektüre – diese wirkt aber wie einer jener Anzüge, die jüngeren Menschen deutlich machen, wie man sich mit 80 fühlt.

Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe, #MeToo-Skandale, Genderdebatten, all diese Zeit-Zeichen kann Carl nicht ignorieren.

Eine Reise in die Vergangenheit, in den polnischen Geburtsort Zoppot, den ostdeutschen Heimatort Windisch und die Begegnung mit den beiden älteren Brüdern unterbrechen den monotonen Alltag und setzen weitere Selbstbefragungen in Gang. Vor allem rückt der Tod, das unausweichliche Ende, immer stärker in den Blick.

Wer Philip Roths «Jedermann» (2006) kennt, wird an dieses grossartige Porträt eines ähnlichen Männer-Typus erinnert werden. Analogie, kein Vergleich: Die Latte Roth liegt so hoch, dass wir sie gleich wieder weglegen. Ausserdem altert und stirbt Annette Mingels’ Held in sichtlich unseren Zeiten: Ukraine-Krieg, Klimakatastrophe, #MeToo-Skandale, Genderdebatten, all diese Zeit-Zeichen kann Carl nicht ignorieren.

Die grosse Kunst der Sterbeszene

Ja, er stirbt am Ende, wie Roths Jedermann, aber während sich dessen Autor diskret abwendet, führt Annette Mingels das Sterben ihres Helden aus und zu einem literarisch wie menschlich beeindruckenden Höhepunkt. Gekonnt hat sie den Helden über 300 Seiten von innen und von aussen gezeichnet, gewissermassen auf schuldig wie auf unschuldig plädiert. Nun erlebt er seinen eigenen Tod als Fusion von Schmerz, Erschöpfung und Glück, und alles, was er in einem letzten Aufleuchten des Bewusstseins wahrnimmt, Visionen von Menschen, Häusern und Erinnerungen, all das fliesst zusammen, wird zu einer universellen Identität.

So eine Sterbeszene ist grosse Kunst. Mit ihr erreicht die Autorin, dass man ihrem Helden, mit dem man so lange ebenso sehr mitgefühlt wie gehadert hat, nach seinem Gang durchs Fegefeuer der Erkenntnis das Paradies eines schönen Todes gönnt.

Annette Mingels: Der letzte Liebende. Roman. Penguin, München 2023. 300 S., ca. 33 Fr.