Analyse zur EU-Erweiterung Kommt jetzt die Mega-EU?
Bis 2030 soll die Europäische Union bereit sein für bis zu neun neue Mitglieder. Kann sie das verkraften? Am Gipfel in Granada suchen die Staats- und Regierungschefs Antworten.
Das Datum steht im Raum, seit EU-Rats-Präsident Charles Michel damit vorgeprescht ist: Die EU soll bis 2030 bereit sein, um bis zu neun neue Mitgliedsstaaten aufzunehmen. Bei einem Gipfeltreffen im spanischen Granada haben die Staats- und Regierungschefs die Diskussion eröffnet, wie die EU weiter wachsen und gleichzeitig handlungsfähig bleiben kann.
Die EU müsse sich reformieren, um sich für die Aufnahme weiterer Länder fit zu machen, sagte etwa der deutsche Kanzler Olaf Scholz: «Wir müssen dann auch mit qualifizierten Mehrheiten Entscheidungen treffen können, damit Handlungsfähigkeit und Souveränität gewährleistet sind.» Unter anderem in der Aussen- und Sicherheitspolitik können Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden.
Die Diskussion ist nicht ganz neu, gewinnt jetzt aber an Brisanz. Bisher mussten Kandidatenländer eine Liste von 35 Verhandlungskapiteln mit dem ganzen EU-Recht abarbeiten, die Annäherung war «leistungsbasiert» und an konkrete Fortschritte geknüpft. Spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine ist Erweiterung auch Geopolitik: «Erweiterung ist eine geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wohlstand», heisst es in der «Erklärung von Granada».
Die Ukraine und Moldau können im Dezember auf grünes Licht hoffen.
Voraussichtlich in einem Monat soll die EU-Kommission ihre Empfehlung abgeben, ob die Ukraine bereit ist für den Start von Beitrittsverhandlungen. Im Schlepptau des grossen Nachbarn kann auch Moldau auf grünes Licht hoffen. Für Georgien bleibt ebenfalls die Tür offen, während Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina Beitrittsverhandlungen angefangen haben, schon Beitrittskandidat sind oder einen Antrag gestellt haben. Ein Sonderfall ist die Türkei, deren Beitrittsverhandlungen schon seit Jahren eingefroren sind.
Die EU könnte also in den nächsten zehn Jahren um neun auf 36 Mitglieder wachsen. Die neue Dynamik hat vor allem mit der Ukraine zu tun. Die Erwartungen sind hoch, der Druck hin zu einer positiven Beurteilung gross. Vertröstet die EU die Ukraine, dürfte das Wladimir Putin in Moskau nur freuen. Ursula von der Leyen wird kaum darum herumkommen, den Start von Beitrittsverhandlungen zu empfehlen. Die Mitgliedsstaaten müssten dann an einem Gipfel im Dezember zustimmen.
Die EU kann sich ein Vakuum an ihren Grenzen nicht leisten.
Messbare Fortschritte könnten in den Hintergrund rücken, politische Erwägungen dominieren. Nicht alle finden das gut, vorschnelle Aufnahmen in Osteuropa hätten sich gerächt. Einmal im Club hat die EU kaum mehr Hebel, um zu reagieren, wenn ein Land wie Ungarn Demokratie, Medienfreiheit und Rechtsstaat aushöhlt oder abschafft. Die Befürworter einer schnellen Aufnahme argumentieren, die EU könne sich in Zeiten der Konfrontation ein Vakuum an ihren Grenzen nicht leisten.
Abschreckendes Beispiel ist der Balkan, wo Russland, aber auch die Türkei und China versuchen, die Frustration über den langsamen Beitrittsprozess auszunutzen und ihren Einfluss auszubauen. Gewisse innere Reformen der EU wären einfach zu bewerkstelligen. Die Anzahl EU-Kommissare in Brüssel müsste reduziert werden, weil es jetzt schon schwierig ist, für alle eine Beschäftigung zu finden. Ebenso die Verteilung der Sitze im EU-Parlament, das mit bald 720 Sitzen jetzt schon zu gross ist.
Andere Vorschläge gehen in Richtung einer EU der verschiedenen Geschwindigkeiten oder einer Aufnahme in Zwischenschritten. Kandidaten könnten vor einem Vollbeitritt zu Ministertreffen eingeladen werden, bei EU-Programmen mitmachen dürfen oder vollen Zugang zum Binnenmarkt bekommen. Auch als Ansporn für Reformschritte.
Heikel wird es beim Geld: Derzeit sind nur 9 der 27 EU-Staaten Nettozahler, während die grosse Mehrheit mehr Fördergelder bekommt, als sie nach Brüssel überweist. Mit der Ukraine als Mitglied würde das Verhältnis dramatisch kippen, fast alle anderen Staaten würden zu Nettozahlern im Club. Die Ukraine ist zudem ein Flächenstaat mit viel Landwirtschaft. Als EU-Mitglied hätte das Land gemäss den heutigen Regeln für eine siebenjährige Finanzperiode Anspruch auf knapp 100 Milliarden Euro allein für seine Bauern. Entweder akzeptieren alle tiefe Einschnitte bei den Direktzahlungen oder die Nettozahler müssen massiv mehr überweisen. Die Debatte über den grössten Erweiterungsschub seit 2004 könnte noch explosiv werden.
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