Analyse zu umstrittenem Essay Die «New York Times» will Taylor Swift zwangsouten – und verrennt sich
Eine der grossen Zeitungen der Welt behauptet, Taylor Swift sei lesbisch. Gute Nacht.
Der Tag, an dem mit der «New York Times» die Einhörner durchgingen, war der Donnerstag, 4. Januar 2024. Eine der wichtigsten Tageszeitungen veröffentlichte an diesem Tag ein 5000 Wörter gewaltiges Meinungsstück, in dem eine freie Autorin namens Anna Marks über die angebliche Homo- oder Bisexualität Taylor Swifts spekuliert. Doppeldeutige Überschrift in Anlehnung an einen Song des Popstars: «Look What We Made Taylor Swift Do». Seht her, wozu Taylor Swift unseretwegen gezwungen ist. Was folgt, ist eine Art Zwangsouting.
Über Swift, die ihre Fans seit 2006 über Boyfriends hat spekulieren lassen, ist in der «New York Times» nun zu lesen, sie sei lesbisch oder bisexuell und möge bitte dazu stehen, im Namen der Community. Um all jenen den Weg zu erleichtern, die sozial, finanziell oder in Dingen der Macht oder der gängigen Schönheitsideale weniger privilegiert sind und wegen ihrer Sexualität diskriminiert und marginalisiert werden. Die Beweisführung geht so: In ihren Songs, Interviews oder den Begleittexten zu ihren Alben habe die Sängerin lauter kleine Hinweise versteckt, bewusst oder womöglich sogar unterbewusst, die ihre wahre Sexualität offenbarten.
Deutlich zeige dies sich etwa im Song «You Need to Calm Down», in dem sich die Zeile «Shade never made anybody less gay» findet (grob übersetzt: Niemand wird dadurch weniger schwul oder lesbisch, dass er oder sie sich versteckt). Andeutungen fänden sich aber auch in «unfulfilled rhyme schemes», in unreinen Reimen also, wie etwa im Song «The Very First Night», in dem es heisst: «Didn’t read the note on the Polaroid picture / they don’t know how much I miss you». Hätte Swift, so die Autorin, anstelle des «Du» in «Sie wissen nicht, wie sehr ich dich vermisse» das Wort «her» (also: wie sehr ich sie vermisse) verwendet, wäre der Reim rein gewesen.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Die Sängerin selbst hat im Sommer 2019 in der «Vogue» bekräftigt, sie sei «nicht Teil» der LGBTQ+-Gemeinde, auch wenn sie diese unterstütze. Die Autorin Marks und die zuständigen Redaktionsmitglieder bei der «New York Times», ein Zeitungstext ist ja nie das Werk eines Einzelnen, lassen das nicht zählen. Für sie ist unklar, ob Swift dies gesagt habe, weil sie tatsächlich heterosexuell sei «oder weil sie in den düsteren, einsamen Ecken der Verheimlichung feststeckt».
Es sind Zeilen, die sich gnadenlos hineinschrauben ins Intimleben von Taylor Swift. Und die journalistischen Standards einreissen. Stichwort Privatsphäre, Stichwort Presserecht. Bevor wir also zum Stichwort «Es gibt Grenzen» kommen, ein kurzer Ausflug in jene Welt, in der der Text entstanden ist.
Gelernt, über Ostereier zu kommunizieren
In Teilen von Taylor Swifts gewaltiger Fangemeinde kursiert die Theorie schliesslich schon lange. Und auch wenn das Ganze nach Verschwörungstheorie klingt, hat die Sache mit den Andeutungen, die Anna Marks und andere aufgespürt haben, zunächst einen ernsten Hintergrund: Queere Menschen haben über Jahrzehnte gelernt, über Andeutungen, über sogenannte Easter Eggs, zu kommunizieren – und zwar aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und Schlimmerem.
Anna Marks hat laut Website der «New York Times» seit 2022 drei Texte bei der Zeitung veröffentlicht, in einem spekuliert sie über die sexuelle Orientierung von Harry Styles. Weil die Kultur «noch immer von Homophobie eingeschränkt wird, ist es unausweichlich, dass wir unsere Ikonen anschauen und uns fragen, wer sie wirklich sind», schrieb sie darin.
Der Popstar Taylor Swift ist auch deshalb derzeit so gigantisch, weil sie die Norm(alität) der meisten verkörpert. Die 34-Jährige begann ihre Karriere im eigentlich hermetisch abgeschlossenen US-Country, wechselte nach ein paar Jahren in den Pop und drehte die Farbpalette dort zuletzt stetig Richtung Regenbogen. Sie gewann immer mehr Fans, und das, ohne die bisherigen zu verschrecken. Das ergab jene Pop-Anomalie, die man «Mega-Normalität» nennen könnte. Oder, auf den Fall heruntergebrochen, eine cis-heteronormative weisse Sängerin, die sich – nach reiflicher Überlegung – dazu entschied, der queeren Bevölkerung mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.
«Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass ich mich für eine Community einsetzen kann, zu der ich selbst nicht gehöre», hat Taylor Swift dazu gesagt. Wieso glaubt man ihr das nicht einfach?
Niemand muss eine «Proud to Be Gay»-Fahne schwenken
Damit zu den Grenzen, die von der «New York Times» überschritten wurden. Denn auch wenn Taylor Swift manchmal wirkt, als wäre sie ihr eigener Avatar: Auch für sie gilt, was immer gilt, wenn es um das Sexuelle im weiteren Sinne geht: Alles darf, nichts muss. Die Menschen müssen in den grellsten Regenbogenfarben schwul, lesbisch, bi, trans und in jeder Nische dazwischen unentschieden sein dürfen. Sie müssen all das auch in jeder Beziehung äussern dürfen, ohne dass ihnen daraus gesellschaftlich, finanziell, rechtlich oder sonst wie auch nur irgendeine Benachteiligung entsteht. Sie dürfen all das aber in absolut keiner Form äussern müssen, wenn sie das selbst nicht wollen. Wer wäre verpflichtet, mit Einhorn-Schwimmreifen um die Taille eine «Proud to Be Gay»-Fahne Richtung Parlament zu schwenken?
Auf der Metaebene ist der Anspruch an Popstars dann auf den ersten Blick latent überraschend. Und auf den zweiten Blick vermutlich Resultat einer Umdeutung des Konstrukts von Stars, der Art also, wie zumindest Teile der Gesellschaft sie inzwischen sehen wollen. Es ist nicht lange her, da war es noch genau ihre Ausseralltäglichkeit, die Stars von einfachen Künstlern (vom Rest von uns eh) abhob. Das latent Entrückte, Transzendierende, Himmelskörperhafte, das ihr Titel ja schon anzeigt, formte sie erst. Popstars mussten einen Scheissdreck – anders als wir, die wir ins Büro müssen und abends kochen für die Kinder. Dafür wurden sie angehimmelt und mehr noch: beneidet.
Moral? Dafür sind die Stars nicht zuständig
Natürlich müssen auch sie Steuern zahlen, und sie müssen sich benehmen im Rahmen der Gesetze. Je länger man sonst so drüber nachdenkt, desto mehr war in allen anderen Bereichen aber doch exakt das Überlebensgrosse die Definition eines Popstars. Die eine Sache, die «den» Pop, den Rock, den Rap, den Techno, den R’n’B (und auch alle anderen Gewerke von Film bis Malerei) im Kern einte, war doch bisher immer diese: Ihre allerstrahlendsten Protagonisten waren aussergesellschaftliche Wesen. Grell leuchtende und, besonders die gängigeren Moraldinge betreffend, explizit autarke Gestalten. Wir haben unsere Stars nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Eigenschaft idealisiert. Das mag immer schon latent blöd gewesen sein. Aber es war eben auch: menschlich.
Wenn Popstars also bislang etwas mussten, dann eine gute Geschichte mitbringen. Und es gibt darüber hinaus Menschen, Feuilletonisten oft, die der Meinung sind, sie sollten gute Kunst machen. Die Welt retten aber, das mussten sie eher nicht. Bis vor kurzem war die Welt jedenfalls zufrieden, wenn Popstars Projektionsflächen für Sehnsüchte waren – und hin und wieder in Mannschaftsstärke für Afrika sangen.
Und wieso nun lässt die «New York Times», die das alles weiss, nicht Taylor Swift in Ruhe? Auf Anfrage wollte sich das Blatt bisher nicht äussern.
Fehler gefunden?Jetzt melden.