G-7-Gipfel zu AfghanistanAm Freitag beginnt der grosse Abzug aus Kabul
Joe Biden bleibt hart. Am 31. August sollen seine Truppen Afghanistan verlassen. Appelle der Europäer, mehr Zeit für Flüge zuzulassen, fruchteten nichts.
Am Ende folgte Joe Biden dem Rat seiner Militärs, nicht dem Verlangen seiner Alliierten. Anlässlich des gestrigen G-7-Gipfels zu Afghanistan bestätigte der US-Präsident, dass es beim 31. August bleibt für den endgültigen amerikanischen Abzug aus Afghanistan. Bereits am Freitag soll mit der Rückholung von 6400 US-Soldaten begonnen werden. Mit der Möglichkeit von Terroranschlägen sei die Situation am Flughafen von Kabul schlicht zu unsicher geworden, um länger zu bleiben, hatte das Pentagon vorab erklärt. Offenbar wurden auch Taliban-Drohungen, für den Fall eines weiteren Verbleibs ausländischer Truppen in den September hinein, von Washington ernst genommen.
Zur gleichen Zeit, da die Staats- und Regierungschefs der führenden Industrienationen gestern per virtueller Konferenz über ihr weiteres Vorgehen berieten, hatte ein Taliban-Sprecher verkündet, dass von nun an nur noch Ausländer zum Flughafen durchgelassen würden. Alle Afghanen sollten endlich «nach Hause gehen». Für den britischen Premierminister Boris Johnson, der die G-7-Konferenz einberufen hatte, bedeutete die Entscheidung Bidens eine persönliche Niederlage.
Berlin und Paris wollten Frist verlängern
Johnson hatte mehrfach deutlich gemacht, dass er Washington um eine Verlängerung der Evakuierungsfrist bitten würde. In Berlin und Paris war ein ähnlicher Wunsch laut geworden. Die Europäer hielten die vom US-Präsidenten vorgegebene Frist für die noch geplanten Flüge aus Kabul schlicht nicht für ausreichend. Mit dem nun bevorstehenden Ende der Flüge bleibt Zehntausenden von Afghanen kein Fluchtweg über den Flughafen Kabul.
Premier Johnson sagte dazu nach dem Gipfel, man werde dafür sorgen, dass die Taliban jedem, der Afghanistan verlassen wolle, «sicheren Abzug» auch über den 31. August hinaus gewährten. Schliesslich habe der Westen «genug Druckmittel», um das zu erzwingen. Andere Regierungen sind wesentlich skeptischer. Die Gipfelteilnehmer hatten offenbar generell Mühe, ihre Vorstellungen vom weiteren Vorgehen gegenüber den Taliban in Übereinklang zu bringen. Mehrere Alliierte der USA hatten aus ihrer Kritik an Washingtons Abzugspolitik kein Geheimnis gemacht.
Johnsons Niederlage
Als G-7-Vorsitzender ging Premier Johnson aber davon aus, dass es den Beteiligten gelungen war, einen «gemeinsamen Fahrplan für den Umgang mit den Taliban» zu beschliessen. Diplomatische und finanzielle Sanktionen sollen dabei eine Rolle spielen. Man müsse den Blick «auf die nächste Phase» dieses Prozesses werfen, sagte Johnson – um auf diese Weise «Menschenrechte zu sichern» in Afghanistan.
Vor Sanktionen gegen das neue afghanische Regime warnte unterdessen gestern die chinesische Regierung, die ihre Botschaft in Kabul nicht geschlossen hat und auf gute Beziehungen mit den Taliban pocht. Zu einer «übergreifenden politischen Vereinbarung» mit Kabul riet auch Pakistans Aussenminister Shah Mahmood Qureshi, als er mit seinem russischen Kollegen Sergei Lawrow sprach. Russlands Präsident Wladmir Putin hielt derweil Kontakt zum indischen Premierminister Narendra Modi, mit dem zusammen er einen «permanenten Kommunikationskanal» für bilaterale Beratungen über Afghanistan aus der Taufe hob. Den G-7 allein dürfe die politische Bühne nach dem US-Fiasko nicht überlassen bleiben, entschied man offensichtlich in Moskau, Delhi und Peking.
Die humanitäre Lage ist kritisch
Beim G-7-Treffen regte die italienische Regierung im Gegenzug eine «spontane Zusammenkunft der G-20» an, deren Vorsitz Rom zurzeit innehat. Dieser Gruppe gehören auch Russland und China an. Die Vereinten Nationen warnten derweil vor Näherliegendem. Schon im September könne es zu einem akuten Mangel an Nahrungsmitteln und zu Hungersnöten in Afghanistan kommen, erklärten Sprecher der UNO.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab bekannt, dass die Europäische Union die humanitäre Hilfe für Afghanistan von 50 Millionen Euro auf über 200 Millionen aufstocken werde, «zusätzlich zu dem, was einzelne Mitgliedsstaaten beisteuern an Hilfe für das afghanische Volk.» Besorgnis äusserte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die gestern erklärte, die Vorräte mit medizinischer Versorgung reichten «nur noch für eine Woche»: 500 Tonnen an Medikamenten kämen wegen der Restriktionen im Flughafen Kabul schlicht nicht zu den Empfängern durch. Ausserdem müsse man befürchten, dass das Chaos in der Folge der jüngsten Tumulte zu einer drastischen Erhöhung der Covid-Erkrankungen im Lande führen wird.
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