Kolumne Krogerus & TschäppelerAlles hat zwei Seiten
Was erstmal nervt, kann gut werden (und leider auch umgekehrt). Eine Parabel.
Das Leben ist voller Wendungen. (Unsere Illustration ist eine Hommage an die brillanten Wendesätze von Peter Brönnimann, der in diesem Stil vor zehn Jahren eine Schweizer Versicherung bewarb.)
Die Idee, dass es oft anders kommt, als man denkt, wird anschaulich erzählt in dieser alten chinesischen Parabel:
In einem Dorf lebte ein alter Mann mit seinem erwachsenen Sohn. Der Mann und sein Sohn hatten einen kleinen Bauernhof und ein Arbeitspferd. Die Leute im Dorf sagten: «Oh, was für ein schönes Pferd der hat, der hat so ein Glück.» Der weise Mann sagte: «Vielleicht, vielleicht nicht.»
Eines Tages brach das Pferd des Mannes aus seiner Koppel und rannte davon. Der Mann sah es noch davongaloppieren, konnte es aber nicht mehr aufhalten. Am Abend sagten die Nachbarn: «Was für ein Pech, sein einziges Pferd ist ihm davongelaufen, der Arme!» Der weise Mann sagte: «Vielleicht, vielleicht nicht.»
Ein paar Tage später kehrte das Pferd zurück, und zwei Wildpferde folgten ihm. Die Leute sagten: «Gestern hatte er keine Tiere, und heute hat er drei Pferde, was für ein Glück er hat!» Der weise Bauer sagte: «Vielleicht, vielleicht nicht.»
Nach einer Weile war es an der Zeit, die Wildpferde zu zähmen. Der Sohn des Bauern machte sich an die Arbeit. Aber stürzte von einem der Pferde und brach sich das Bein. Die Leute im Dorf sagten: «Oh nein! Sein Sohn, der Einzige, der ihm auf dem Hof hilft! Wie schlimm für ihn.» Der Bauer antwortete: «Vielleicht, vielleicht nicht.»
Einige Zeit später brachen an der nördlichen Grenze Kämpfe aus, und alle Männer im wehrfähigen Alter wurden als Soldaten rekrutiert. Bis auf den Sohn des alten Bauern, der sich das Bein gebrochen hatte. Da staunten die Nachbarn wieder: «Alle anderen haben ihre Söhne verloren, aber du hast deinen Sohn behalten, was für ein Glück!» Der Bauer sagte: «Vielleicht, vielleicht nicht.»
Dies ist die Parabel vom chinesischen Bauern. Vielleicht kannten Sie sie schon, uns ist sie diesen Sommer in einem klugen kleinen Buch über den Weg gelaufen. Aber was lernen wir aus der Geschichte? Und warum erzählen wir davon in unserer Kolumne?
Nun, der Bauer glaubt nicht daran, dass das, was uns im Leben passiert, immer nur entweder gut oder schlecht ist. Sondern dass alles, was schlecht scheint, sich zum Guten wenden, und alles, was gut ist, schlecht werden kann. (Aber sich auch wieder ändern kann!) Es liegt eine grosse Kraft in der Fähigkeit verborgen, unterscheiden zu können zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir glauben.
Es kommt selten so, wie man glaubt, dass es kommen würde. Kein Leben, keine Karriere, kein Gesprächsverlauf ist, wenn man ehrlich ist, planbar. Was also kann man tun? Wir können nur für uns selber sprechen. Das meiste, über das wir uns Sorgen machten oder vor dem wir uns fürchteten im Leben, ist nie eingetreten. Und das, was tatsächlich geschehen ist, haben wir nie kommen sehen.
Mikael Krogerus ist «Magazin»-Redaktor, Roman Tschäppeler ist Kreativproduzent. rtmk.ch
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