Spektakuläre Reise in die UkraineAbflug mitten in der Nacht: Wie Biden nach Kiew gebracht wurde
Mit mehreren Tricks und Ablenkungsmanövern hielt das Weisse Haus die Reise von Joe Biden geheim – alle Details und Bilder zum spektakulären Trip des US-Präsidenten ins Kriegsland.
Plötzlich war er in Kiew: Die Meldung, dass US-Präsident Joe Biden am Montagmorgen in der ukrainischen Hauptstadt angekommen ist, war eine faustdicke Überraschung kurz vor dem Jahrestag des Kriegs. Die Reise war erfolgreich geheim gehalten worden – und zwar mit einigen Tricks, wie sich nun herausstellt. Die Chronologie von Bidens spektakulärem Kiew-Trip in der Übersicht:
Freitag, 17. Februar 2023, Washington
Die Planung der Reise in das Land im Kriegszustand dauerte Monate. Selbst wenn die Frontlinie mittlerweile weit weg von Kiew liegt, kann die Hauptstadt jederzeit wieder mit Raketen angegriffen werden, die Sicherheitsbedenken waren deshalb gewaltig. Am Freitag schliesslich wurde die Reise nochmals im Oval Office durchdiskutiert, und Joe Biden gab schliesslich grünes Licht.
Während normalerweise ein gutes Dutzend Medienleute mit dem US-Präsidenten mitreisen dürfen, wurden dieses Mal nur zwei eingeladen. Diese wurden auf Geheimhaltung eingeschworen; sie sollten sich bereit machen und auf ein E-Mail mit dem Betreff «Anweisungen für das Golfturnier» warten.
Samstag, 18. Februar 2023, Washington
Der Samstagabend muss rückblickend als Ablenkungsmanöver für die heimische Medienschar betrachtet werden. Joe und Jill Biden gingen in die Kirche, machten einen Abstecher ins Museum für amerikanische Geschichte und assen schliesslich im Restaurant Red Hen die berühmten Rigatoni. Es sollen die besten der Stadt sein, berichten US-Medien. Die beiden kehrten danach ins Weisse Haus zurück, zur Nachtruhe nach einem normalen Samstag, wie alle glaubten.
Sonntag, 19. Februar 2023, Washington–Polen
Doch an Schlaf war für den US-Präsidenten wohl kaum zu denken, kurz nach Mitternacht wurde er nämlich aus dem Wohnteil des Weissen Hauses gebracht und zum Militärflugplatz Joint Base Andrews gefahren. Dort warteten Sicherheitskräfte sowie ein kleiner Kreis seiner Mitarbeitenden und ein medizinisches Team auf ihn. Auch ein Vertreter der Nachrichtenagentur AP sowie eine Journalistin des «Wall Street Journal» waren vor Ort; sie hatten das ominöse E-Mail erhalten und mussten auf dem Militärflugplatz nun ihre Handys abgeben. Erst jetzt konnten sie über die Details der Reise berichten.
Anstatt in die üblicherweise als Air Force One benützte Boeing 747 stieg der Trupp in eine Air Force C-32, eine Boeing 757 im Dienst der US-Luftwaffe. Diese wurde mit dem Präsidenten an Bord zwar offiziell zur Air Force One, verwendete stattdessen aber das Rufzeichen «SAM060», wobei SAM für «Special Air Mission» steht. Die Maschine hob kurz nach 4 Uhr morgens in Washington ab.
Um 17.13 Uhr kam die Präsidenten-Maschine in Ramstein an, dem deutschen Stützpunkt der US-Luftwaffe. Die Fenster waren verdunkelt, es sollte niemand sehen können, wer im Flugzeug sass. Die Maschine wurde aufgetankt und flog um 18.29 Uhr nach Polen weiter. Der Transponder wurde ausgeschaltet, damit die Route nicht nachverfolgt werden konnte. Um 19.57 Uhr landete die Boeing 757 auf dem internationalen Flughafen von Rzeszow im Südosten des Landes.
Ein Autokorso mit rund 20 Fahrzeugen wartete auf die Delegation. Biden stieg in eines der Autos, und die Kolonne fuhr etwa eine Stunde lang auf der Autobahn nach Przemysl, einer Kleinstadt an der Grenze zur Ukraine. Hier waren im vergangenen Jahr Tausende Flüchtlinge mit dem Zug aus dem Kriegsgebiet in der EU angekommen. Den wohl prominentesten Besuch verpasste die Stadt aber: Als die US-Delegation um 21.15 Uhr ankam, waren kaum Leute im Bahnhof und die meisten Restaurants und Stände geschlossen.
Während US-Präsidenten normalerweise nur in eigenen Fahrzeugen reisen, sei es in der gepanzerten Cadillac-Limousine «The Beast» oder in einem Helikopter der US-Marine, stieg Joe Biden nun in einen normalen Zug um. Aus Sicherheitsgründen wurde auf einen Weiterflug, beispielsweise per Marine One, verzichtet. Einige der Wagen waren blau-gelb in den Farben der Ukraine bemalt. Um 21.37 Uhr fuhr der Zug los und überquerte um 22 Uhr die Grenze zur Ukraine.
Ab da war der US-Präsident in einem Kriegsland und vom eigenen Militär nicht mehr geschützt. Darin unterscheidet sich Bidens Reise nach Kiew hauptsächlich von vergleichbaren Überraschungsbesuchen von früheren Präsidenten. George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump reisten zwar auch in Krisengebiete wie dem Irak oder Afghanistan, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon nach Vietnam und Dwight Eisenhower nach Korea, aber jeweils in Regionen unter US-Kontrolle, mit eigenen Stützpunkten. Es sei das erste Mal seit Abraham Lincoln, dass ein US-Präsident so nahe am Kampfgebiet gewesen sei, schreibt die «New York Times». Lincoln besuchte im Bürgerkrieg die Schlachtfelder in North Virginia.
In der neueren Zeit noch am ehesten vergleichbar ist Franklin D. Roosevelts Flug nach Casablanca während des Zweiten Weltkriegs. Der damalige US-Präsident verliess Washington per Zug in Richtung New York – ein Täuschungsmanöver, denn er stieg in Baltimore in einen Zug nach Miami um, von wo aus er über mehrere Stationen in das heutige Marokko flog. Die Reise dauerte fast fünf Tage, bevor Roosevelt in Casablanca mit Winston Churchill die weitere Kriegsführung gegen Deutschland plante. Nordafrika war zu diesem Zeitpunkt schon fast komplett unter Kontrolle der Alliierten, das noch umkämpfte Tunesien ungefährlich weit weg.
Im Gegensatz dazu war Biden in der Montagnacht also in geheimer Mission direkt in einem Kriegsland unterwegs – so wie diverse europäische Politikerinnen und Politiker vor ihm mit dem Zug von Polen nach Kiew. US-Kampfjets wurden zwar an der Grenze zur Ukraine gesichtet, sie waren dort wohl für den Notfall einsatzbereit, hielten sich aber stets im polnischen Luftraum auf, wie es nun heisst. Man wollte vermeiden, dass der Eindruck einer amerikanischen Intervention in der Ukraine entstehen könnte.
Montag, 20. Februar 2023, Ukraine
Noch immer wusste kaum jemand, dass sich der US-Präsident mittlerweile in der Ukraine befand. Das Weisse Haus setzte dazu sogar eine Falschnachricht in Umlauf und informierte die Medien darüber, dass sich Joe Biden noch immer in Washington aufhalte und erst am Montagabend nach Europa zu seiner geplanten Reise aufbrechen wollte. Am Dienstag sollte er gemäss den Reiseplänen in Polen ankommen; in Tat und Wahrheit war der US-Präsident zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Stunden in der Ukraine.
Oft werden Überraschungsbesuche im Anschluss an offizielle Reisen geplant. Anstatt zurück nach Hause hätte Biden so beispielsweise nach dem Aufenthalt in Polen die Visite in der Ukraine anhängen können. Das Sicherheitsteam entschied sich dazu, die Reihenfolge umzukehren und den geheimen Kurztrip vor den offiziellen Besuch in Polen zu stellen. Mit Erfolg. (Lesen Sie dazu: Bidens Trip nach Kiew – was für ein Coup)
Während die Welt weiterhin keine Ahnung von Bidens Reise nach Kiew hatte, war Moskau über die geheime Fahrt eingeweiht. Die Russen erhielten eine Vorwarnung, um zu verhindern, dass der Kreml mit einem möglicherweise gerade dann ausgeführten Raketenangriff auf die Ukraine nichts ahnend einen internationalen Konflikt auslöst, wenn dabei auch der US-Präsident unter Beschuss käme.
Biden habe die Zugfahrt in Freizeitkleidern verbracht, erzählt ein Mitreisender der «New York Times». Er habe nicht viel geschlafen und über vergangene Besuche in Kiew und das Telefongespräch mit Wolodimir Selenski zu Kriegsbeginn nachgedacht. Um 8 Uhr morgens Lokalzeit kam der Zug schliesslich in Kiew an, auf einem geräumten Perron. Biden stieg in einem blauen Anzug aus, mit einer blau-gelb gestreiften Krawatte. Trotz der langen Reise war er sichtlich gut gelaunt und wurde vom US-Botschafter empfangen. «Es ist gut, zurück in Kiew zu sein», soll er gesagt haben.
Der US-Präsident wurde in einer Fahrzeugkolonne zum Amtssitz des ukrainischen Präsidenten gefahren. Nun gab es erste Gerüchte in der Stadt; man fragte sich, wer der wichtige Besuch sei, der so einen Autokorso benötigt. Auch während des Aufenthalts in Kiew blieb Geheimhaltung aber vorerst oberstes Gebot. Zwar konnten nun weitere Journalistinnen und Reporter den US-Präsidenten begleiten, sie mussten aber auf Live-Berichterstattung verzichten und durften keine Angaben zu Fortbewegungsmitteln oder geplanten nächsten Treffpunkten machen.
Erst kurz vor Mittag, als Biden und Selenski das St. Michaelskloster besuchten und dafür viele Strassen gesperrt wurden, erfuhr die Weltöffentlichkeit offiziell vom Geheimbesuch. Die beiden gingen kurz in die Kirche; mittlerweile waren die Alarmsirenen losgegangen, die vor einem möglichen Luftangriff warnten. Vom St. Michaelskloster ging es für Biden weiter zur US-Botschaft.
Um 13.10 Uhr kehrte die Delegation zum Bahnhof zurück und fuhr mit dem Zug zurück nach Polen. Er habe wieder kaum geschlafen, dafür sofort Anweisungen gegeben, wie der Ukraine militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch geholfen werden soll, sagte einer seiner Mitarbeiter der «New York Times». Am gleichen Abend war Biden zurück in Przemysl und flog von dort nach Warschau. Von hier an ist der US-Präsident zurück in der Normalität, er steigt in seinen Cadillac «The Beast» und beendet die über 36-stündige Geheimreise.
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