Evakuierung in MariupolHunderte ukrainische Kämpfer verlassen das Stahlwerk
Wochenlang hielten sie sich unter katastrophalen Bedingungen verschanzt: Nun wurde ein Teil der ukrainischen Soldaten aus dem umkämpften Stahlwerk in Mariupol evakuiert.
264 ukrainische Soldaten sind aus dem seit Wochen von russischen Truppen belagerten Stahlwerk des Konzerns Asow-Stahl in der Hafenstadt Mariupol evakuiert worden. 53 Schwerverletzte seien am Montag zur Behandlung in die von prorussischen Separatisten kontrollierte Stadt Nowoasowsk und 211 weitere Soldaten in den Ort Oleniwka gebracht worden, erklärte das ukrainische Verteidigungsministerium. Beide Orte liegen in Gebieten unter Kontrolle des russischen Militärs.
Die Soldaten sollen zu einem späteren Zeitpunkt «ausgetauscht» werden, wie die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar in einer Videobotschaft sagte. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar haben Kiew und Moskau bereits mehrere Gefangenenaustausche vorgenommen.
Das russische Verteidigungsministerium hatte zuvor am Montag eine Waffenruhe in Mariupol verkündet, um verletzte ukrainische Soldaten aus dem Stahlwerk zu holen. Moskau hatte «medizinische Einrichtungen» in Nowoasowsk als Ziel der Evakuierungsaktion genannt.
«Wir brauchen unsere Helden lebend»
«Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Jungs retten können», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Videobotschaft. «Ich möchte unterstreichen: Die Ukraine braucht ihre ukrainischen Helden lebend. Das ist unser Prinzip.»
Das Asow-Stahlwerk ist die letzte Bastion der ukrainischen Armee in der strategisch wichtigen Hafenstadt. In den vergangenen Wochen waren zunächst hunderte Zivilisten aus dem riesigen Industriekomplex in Sicherheit gebracht worden. Hunderte ukrainische Soldaten harrten aber weiterhin dort aus. Nach ukrainischen Angaben waren es noch rund 1000, darunter 600 Verletzte.
Der Generalstab der ukrainischen Armee erklärte in der Nacht zum Dienstag, die Soldaten hätten «ihren Kampfauftrag erfüllt». Die Kommandeure hätten den Befehl, «das Leben» der verbliebenen Soldaten zu «retten». Die Bemühungen um deren Entsetzung würden fortgesetzt.
«Leider kann die Ukraine heute Asow-Stahl nicht mit militärischen Mitteln befreien», erklärte das ukrainische Verteidigungsministerium seinerseits auf Telegram. Dem Generalstab zufolge hatte der erbitterte Widerstand der Soldaten in Mariupol jedoch den Vormarsch der russischen Streitkräfte auf die Grossstadt Saporischschja, die sich nach wie vor in ukrainischer Hand befindet, entscheidend verlangsamt.
Kaum noch Vorräte und Wasser
Die Hafenstadt Mariupol war bereits kurz nach dem russischen Einmarsch im Februar eingekesselt worden. Die strategisch wichtige Grossstadt war heftigen Bomben- und Raketenangriffen ausgesetzt. Experten und ukrainische Behörden gehen von Tausenden Toten in der Zivilbevölkerung aus. Die russischen Truppen übernahmen nach der Belagerung schrittweise die Kontrolle. Die letzten ukrainischen Verteidiger der Stadt verschanzten sich jedoch in dem riesigen Stahlwerk mit mehreren unterirdischen Etagen.
Die russischen Truppen riskierten keinen Erstürmungsversuch, riegelten aber alle Zugänge ab. «Blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt», wies Kremlchef Wladimir Putin sein Militär vor laufender Kamera an. Das Gelände wurde immer wieder bombardiert. Hunderte Zivilisten, die vor vorrückenden russischen Truppen ebenfalls ins Stahlwerk flüchteten, waren bereits in den vergangenen Tagen vom Werksgelände evakuiert worden.
Über den Abzug der Soldaten, die kaum noch Vorräte, Wasser und Munition haben, wurde lange verhandelt. «Niemand hat damit gerechnet, dass die Kämpfe so lange dauern würden. Nicht einmal wir selbst», sagte der stellvertretende Kommandeur Ilja Samojlenko unlängst in einem Interview mit der «Welt». Die Vorräte würden noch für ein bis zwei Wochen reichen – maximal.
In der Ukraine gab es auch Vorwürfe an die Regierung in Kiew, sie habe die letzten Verteidiger Mariupols im Stich gelassen. «Ach, der Generalstab... der wird uns ein schönes Denkmal setzen», sagte der 27-jährige Samojlenko dazu. «Unser Leben ist nichts wert. Was wirklich zählt, das ist die Ukraine. Und die Ukraine muss gewinnen.»
AFP/nlu
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