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Netflix-Film «Im Westen nichts Neues»
148 Minuten voller Kriegskitsch

Felix Kammerer als Paul Bäumer: Szene aus «Im Westen nichts Neues», vom deutschen Regisseur Edward Berger für Netflix adaptiert.

Erich Paul Remark war nur ein paar Wochen an der Front in Flandern, als junger Rekrut im Juli 1917. Dann wurde er verwundet und verbrachte den Rest des Ersten Weltkriegs in einem Lazarett in Deutschland. Aber aus dieser kurzen Zeit im Krieg entstand eins der wichtigsten Bücher, die je in deutscher Sprache geschrieben wurden: 1929 veröffentlichte der ehemalige Soldat unter dem Namen Erich Maria Remarque den Roman «Im Westen nichts Neues», ein schmaler Band von enormer Kraft.

Remarque schilderte den Krieg an der Westfront darin so, wie er gewesen war – ein apokalyptischer Irrsinn. «Im Westen nichts Neues» wurde zu einem weltweiten Bestseller, zu einem Klassiker der Kriegs- respektive Antikriegsliteratur, zu einem auf Papier gedruckten Monument gegen die Idee, die Grösse einer Nation hänge davon ab, dass ihre jungen Männer die jungen Männer des Nachbarlandes umbringen.

Hat der Filmer das Buch überhaupt gelesen?

Die erste Verfilmung gewann 1930 zwei Oscars. Das sind eigentlich beste Voraussetzungen, um mit dem Roman etwas Vernünftiges anzustellen. Der Streamingdienst Netflix allerdings bestätigt mit seiner neuen Verfilmung von «Im Westen nichts Neues», die seit Freitag läuft, das vielleicht älteste Vorurteil aller Kulturpessimisten: Kein Buch ist so gut, dass man daraus nicht einen schlechten Film machen könnte.

Wobei – das stimmt nicht ganz. Der deutsche Regisseur Edward Berger, sein Team und die Schauspieler haben einen durchaus eindrücklichen Kriegsfilm gemacht, womöglich sogar einen Antikriegsfilm. Wer es noch nicht wusste, aber wissen will, kann beim Anschauen von «Im Westen nichts Neues» lernen, dass es im Ersten Weltkrieg sehr viele Arten des Tötens und Sterbens gab. Die Soldaten wurden von Granaten zerrissen, von Kugeln durchlöchert, von Giftgas erstickt, von einstürzenden Bunkerdecken begraben, von Panzerketten zerquetscht, von ihren Gegnern mit Messer und Bajonetten erstochen, mit Spaten erschlagen, mit Flammenwerfern verbrannt. All das zeigt der Film mit realistischer Brutalität.

Realistische Brutalität: Der Film zeigt das elende Leben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.  

Dazu zeigt er das elende Leben in den Schützengräben. Der ewige Regen verwandelt die von den Kämpfen zerstampften Ebenen Nordfrankreichs in Morast. Die Soldaten hocken verängstigt in Erdlöchern, sie kriechen durch Schlamm, sie waten durch Matsch, sie fallen in Granattrichter, die mit Wasser gefüllt sind, das braun ist – oder rot von Blut. Im Stacheldraht vor den Gräben hängen Leichen, durch die Unterstände rennen Heere von Ratten. Nach allem, was von den Zuständen an der Westfront überliefert ist, kommt das Bild, das Bergers Film zeichnet, der Realität recht nahe. Das ist eine Leistung.

Dem Buch «Im Westen nichts Neues» kommt der Film «Im Westen nichts Neues» hingegen leider nur auf eine sehr flüchtige Art nahe. Während der fast zweieinhalb Stunden, die der Film dauert, fragt man sich zuweilen, ob Regisseur Berger Remarques Roman überhaupt gelesen hat. Oder ob er ihn, wenn ja, dann eventuell nur deshalb gelesen hat, um möglichst viel Originalmaterial zu streichen, damit er und seine Drehbuchautoren möglichst viel neues Material erfinden können. Jedenfalls besteht der Film, grob geschätzt, zu acht oder mehr Zehnteln aus Szenen, die mit dem Buch nicht nur wenig, sondern gar nichts zu tun haben. Trügen die handelnden Personen im Film nicht die gleichen Namen wie im Buch – Paul Bäumer, Albert Kropp, Kat –, dann fiele es schwer, nennenswerte Parallelen zwischen den beiden Werken zu finden.

Die nicht unwichtige Verbindung zwischen Inhalt und Titel kappt Berger kurzerhand.

Berger fügt der Romanvorlage in seinem Film nach Belieben Figuren hinzu, zum Beispiel den von Daniel Brühl gespielten Politiker Matthias Erzberger. Der Regisseur erfindet allerlei neue Handlungsstränge, zugleich lässt er andere Charaktere und Szenen weg, die für den Roman zentral sind, oder verkürzt und verändert sie so drastisch, dass diese wirken, als habe er zum Ende der Dreharbeiten noch schnell eine Best-of-Remarque-Liste abarbeiten wollen. Die langen, quälenden Stunden, die der junge deutsche Soldat Bäumer im Roman in einem Granatloch neben einem langsam sterbenden Franzosen verbringt, den er erstochen hat, schrumpfen bei Berger auf einige belanglose Minuten zusammen – ein paar Bilder des Grauens unter vielen.

Dem Soldaten Kat, einer Beschützer- und Vaterfigur für den verlorenen Rekruten Bäumer, dichtet Berger im Film einen an Pocken verstorbenen zehnjährigen Sohn an. Warum? Der Regisseur verrät es nicht. Vielleicht als dramaturgische Verbindung zu der ebenso hinzuerfundenen späteren Szene, in der Kat beim Eierstehlen von einem ungefähr zehnjährigen französischen Bauernjungen erschossen wird.

Selbst den kurzen Epilog, der dem Roman 1929 seinen lakonischen Titel gegeben hat, hat Berger umgeschrieben. Bei Remarque fällt Paul Bäumer fast beiläufig einige Wochen vor Kriegsende – an einem Tag, «der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden». In Bergers Film ist Bäumers Tod dagegen der Höhepunkt eines letzten, dramatischen Sturmangriffgemetzels. Wenige Sekunden vor dem Waffenstillstand wird er von einem Bajonett durchbohrt. Die nicht unwichtige Verbindung zwischen Inhalt und Titel kappt Berger so kurzerhand. Hätte ein amerikanischer Regisseur derart an Remarques Buch herumgesäbelt, um es in Filmform zu bringen – der Aufschrei der deutschen Kulturbranche wäre vermutlich gewaltig.

Natürlich hat Edward Berger jedes Recht, alles in sein Drehbuch hineinzupacken, was ihm zum Thema Erster Weltkrieg so einfällt, wenn ihm bei Remarque nicht genug Tempo und Action drin ist. Berger musste Netflix von dem Projekt überzeugen, Geldgeber finden, er will international Erfolg haben und Preise gewinnen – das ist alles legitim.

Aber dass Berger seinen weitestgehend selbst geschriebenen Film ernsthaft als Adaption von «Im Westen nichts Neues» verkauft, ist ziemlich verwegen. Und es weckt den Verdacht, hier gehe es vor allem um cleveres Marketing: 148 Minuten Blockbuster-tauglicher Kriegskitsch werden mit einem Titel versehen, der weltweit bekannt ist, der Prestige und einen guten Verkauf garantiert. Vielleicht sogar einen Oscar.

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