100 Jahre TürkeiNicht alle haben Grund zum Feiern
Erdogan hat viel Mitgefühl für die Palästinenser in Gaza. Das hätte ein Volk im eigenen Land auch gern: die Kurden. Eindrücke aus einem Istanbuler Viertel.
Die Republik feiert, nur, es gehen nicht alle hin. Klar, auf den ersten Blick ist Istanbul an diesem Wochenende eine grosse patriotische Party, rote Fahnen überall, die ganze Istiklal-Strasse, die Einkaufsmeile, ein Spalier aus Flaggen. Vor dem Topkapi-Palast, wo die Sultane residierten, liegt die Anadolu vor Anker, ein Schiff, auf dem Drohnen landen können, bereit für die Parade am Sonntagabend.
100 Jahre ist die türkische Republik jetzt also alt. «Welche Republik?» Das fragt kurz vor dem Geburtstag einer, der sich als Ismet vorstellt, der Besitzer eines Krämerladens, wenige Blocks nur entfernt vom Flaggenmeer der Istiklal. Seinen Nachnamen sagt Ismet lieber nicht.
Man trifft ihn, wenn man die Hauptstrasse überquert und nach Tarlabasi geht, einem engen, immer noch ärmlichen Viertel. Es ist die Rückseite der Istanbuler Innenstadt, die Wäscheleinen hängen über den Gassen, als hätte sich in der Türkei nie etwas verändert. Ein kurdisch geprägtes Viertel ist Tarlabasi. «Für uns», sagt Ismet, auch er ist Kurde, «gab es nie eine Republik.»
Kurdische Identität hat erhebliche Nachteile
Eine Runde hat sich gebildet in der Gasse, um Ismet, den Händler. Sie wollen erzählen, wie das ist: in der Türkei leben mit kurdischer Identität. «Die Republik», sagt einer, «die hat uns nichts gegeben. Nur Schmerzen.» Der Nächste sagt: «Da gibt es nichts zu feiern. Die Republik heisst für uns: Gefängnis, Massaker, Emigration.»
Selbst Präsident Erdogan kann mit dem Jubiläum nicht viel anfangen.
Ein älterer Mann meldet sich zu Wort. In Rojava, also in Nordsyrien, bombardiere Präsident Recep Tayyip Erdogan die Kurden, während er die Israelis für deren Bomben auf Gaza kritisiere. Tatsächlich flog die türkische Luftwaffe seit dem PKK-Anschlag in Ankara im Oktober wieder und wieder Angriffe auf Ziele in Nordsyrien, kurdische Ziele, selbst auf Elektrizitätswerke. «Und die Welt schweigt», sagt der Mann.
Es sind eigenartige Tage in der Türkei. 100 Jahre, das ist ja was. Aber das Feiern fühlt sich eher pflichtschuldig an, selbst der Präsident kann mit dem Jubiläum nicht viel anfangen. Die alte Republik will Erdogan abschütteln. Wenn überhaupt redet er über die letzten 20 Jahre, die seiner Herrschaft.
Und viel lieber redet er darüber, dass jetzt erst «das Jahrhundert der Türkei» anfange. Ein neuer Versuch, sozusagen: Das zweite Jahrhundert wird super. (Lesen Sie zum Thema auch die Analyse zu den Türkei-Wahlen im letzten Mai: «Erdogan hat gesiegt – das Land hat verloren».)
Heute Sonntagabend hält Erdogan eine Rede zur Nation, um 19.23 Uhr, passend zum Gründungsjahr. Nachher fährt der Stolz der türkischen Flotte den Bosporus hinauf, am Himmel fliegt der Stolz der Luftwaffe: die Drohnen made in Türkiye.
Wichtiger war Erdogan wohl die Rede am Samstag, vor Hunderttausenden in Istanbul: Da sprach der Präsident von den Unterdrückten, die sich erheben, die letztlich siegen, die sich ihre Freiheit erkämpfen würden. Er sprach vom Leid jener, die Angehörige bei einem Luftangriff verloren haben. Er sprach nicht von den Kurden, er meinte Gaza.
«Will der Westen wieder einen Konflikt zwischen Kreuz und Halbmond?», fragte der türkische Präsident in seiner Rede. Erdogan war immer ein Meister darin, zu verstehen, wo die Mehrheit liegt. Die türkische Mehrheit fühlt dieser Tage mit den Menschen im Gazastreifen. Sie ist sich sicher, dass es sich bei den Palästinensern um Unterdrückte handelt. Und bei den Kurden?
Das Abkommen von Lausanne vergass die Kurden
Er kommt jedenfalls aus der Geschichte, die in der Türkei nie vorbei war. In Tarlabasi, auf der Strasse, im Gespräch mit Menschen wie Ismet, hört man von Lausanne. In der schweizerischen Stadt schloss die Türkei damals, 1923, nach gewonnenem Befreiungskrieg, einen Vertrag mit den europäischen Mächten. «Lozan», wie es die Türken schreiben, bestimmt die Grenzen der Türkei.
Und Lozan, also Lausanne, sah keinen kurdischen Staat vor. Die türkische Republik tat so, als gebe es keine Kurden, als wäre der Südosten nicht zu grossen Teilen von ihnen bewohnt. Man versuchte, die Ethnie auszulöschen, schlug Aufstände nieder, verbot die Sprache. Erst Erdogan änderte das. In seinen frühen Jahren ein Reformer, begann er sogar Friedensverhandlungen mit der PKK-Miliz, die sich jahrelang mit der Armee bekriegte.
Vorbei. Lange vorbei. Der Präsident stoppte den Prozess schon 2015, als eine kurdisch dominierte Partei, die HDP, ins Parlament einzog und ihm die Mehrheit nahm. Erdogan weiss, dass wenig seine nationalistischen Wähler so sehr eint wie ein harter Kurs gegen die Kurden. Auch wenn er es selbst nicht sagen würde, gegen die Kurden, sondern: gegen die PKK. Selbst bei Anhängern der Opposition kommt das an. Eine junge kurdische Abgeordnete sagt, wenn es um «Kurdenfeindschaft» gehe, «da sind sie sich alle einig».
Beritan Günes ist 28 Jahre alt, seit diesem Jahr sitzt sie im Parlament. Für die HEDEP, wie die Partei jetzt heisst. Kurdische Parteien hatten schon viele Namen, der immer neuen Verbote wegen. Man erreicht Günes am Samstag telefonisch, während Erdogan gerade seine Gaza-Rede beginnt. Günes sagt, sie wolle nicht zu weit ausholen. Und sie erzählt dann vom antiken Chronisten Herodot, schon der habe ein kurdisches Volk erwähnt. Sie klingt, als müsste sie sich schon ihr ganzes Leben lang rechtfertigen.
Viele Kurdinnen und Kurden haben das Gefühl, dass nur die PKK sie beschützen könne.
Dafür, dass sie nicht nur Türkisch spricht, sondern auch Kurdisch. In ihrem Wahlkreis, sagt Günes, gebe es mehrere Sprachen: Türkisch, Kurdisch, Arabisch. Nach der Wahl trat sie im Parlament ans Rednerpult und bedankte sich bei ihren Wählerinnen und Wählern, in den Sprachen ihrer Heimat. Grosse Aufregung dann, parteiübergreifend. Kurdisch im Parlament – so was von verboten! «Aber wenn Obama kommt und seine Rede auf Englisch hält», sagt Günes, «dann ist es kein Problem.» Sie sagt, sie fühle sich manchmal wie vor 100 Jahren.
Darin liegt die Tragik der Türkei. Vieles könnte lange gelöst sein, das Land schien auf einem guten Weg. Und heute, zum runden Geburtstag? Leidet es, wie früher, unter Hyperinflation, geht die Jugend ins Ausland, kommen Journalistinnen und Journalisten ins Gefängnis, weil sie etwas Kritisches geschrieben haben. Und die Armee und die PKK befinden sich wieder im Krieg, wie in den Achtzigerjahren oder den Neunzigern, nichts hat sich getan.
Ein Appell für Verhandlungen
Parlamentarierin Günes bewundert Abdullah Öcalan, den inhaftierten Gründer der PKK, sie macht kein Geheimnis daraus. Das ist die Tragik der Kurden, sie bekommen es nicht hin, sich von der PKK zu distanzieren. Viele haben das Gefühl, nur die PKK schütze sie. Wie in den Neunzigern. Und Erdogan? Der hat es damit leicht, sie alle in die Ecke der Terroristen zu stellen.
«Wir müssen einen inneren Frieden finden», sagt Günes. «Wir müssen wieder an den Verhandlungstisch. Wir brauchen eine freiheitliche Republik, die alle Völker anerkennt, die hier leben.» Sie weiss, dass es nur ein Appell ist, der verklingen wird. Erdogan hat die Wahlen gewonnen, mal wieder, es ist seine Republik. Nicht ihre.
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