Kolumne «Miniatur des Alltags»Zwiebel oder Jumanschi?
Jede Familie hat sie, oft sogar unbewusst: Familienwörter.
Familienwörter sind Wörter, die irgendwann einmal durch eine lustige Situation erfunden wurden,
die vielleicht sogar seit Generationen im familieninternen Sprachgebrauch existieren, die jedoch
ausserhalb der Familie von niemandem verstanden werden. Um genau so ein Wort ist meine Familie
letztens reicher geworden.
Es war ein heisser Maitag, und ich war bei meinem Vater und meinen Schwestern zu Besuch. Letztere
sind vier Jahre alte Zwillinge, eine gesprächiger als die andere. Mein Vater hingegen schien
schon seit Beginn meines Besuches angespannt. Beim Anblick des Essens begannen dann auch
meine Schwestern unruhig auf ihren Stühlen hin und her zu rutschen und stocherten lustlos in ihrem
Gemüseauflauf herum.
Auf einmal entdeckte die eine etwas in ihrem Auflauf. Mit trotziger Stimme und angewidertem
Gesichtsausdruck teilte sie dem Vater mit: «Ich habe Zwiebeln nicht gerne.» Die Schwester stimmte
sogleich mit ein: Zwiebeln seien «grusig», sie wolle lieber Zwieback essen.
Nach langem Nörgeln und Quengeln stiess mein Vater einen entnervten Ton aus, wischte sich den Schweiss von der Stirn und sagte mit dem letzten bisschen Geduld: «Das sind keine Zwiebeln, das ist Jumanschi.»
Die beiden schauten ihn zunächst kritisch an. Als er aber nochmals verdeutlichte, dass es sich hierbei tatsächlich nicht um Zwiebeln handelte, sondern um das «uh feine Jumanschi», nahm die eine vorsichtig einen Bissen in den Mund.
Nach ungefähr einer Sekunde spuckte sie ihn jedoch wieder aus und verzerrte ihr Gesicht. Sogleich schossen ihr Tränen in die Augen, was bei ihrer Schwester einen lauten Lacher auslöste. Sie zeigte auf den Vater und meinte triumphierend, während sie den Teller von sich stiess: «Das ist gar kein Jumanschi. Das ist Zwiebel. Du hast gelogen. Jumanschi gibt es gar nicht.»
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