Lärmbelastung in StädtenBund will Lärmschutz lockern, um Wohnungsbau voranzutreiben
In der Schweiz sind zahlreiche Bauprojekte wegen überschrittener Grenzwerte blockiert. Das will die Politik ändern, Kritiker sprechen von einem «radikalen Abbau» des Lärmschutzes.
Der Zielkonflikt ist offensichtlich: Die Schweizer Bevölkerung wächst stetig, zugleich will die Raumplanung die Zersiedelung eindämmen, indem in urbanen Wohngebieten verdichtet gebaut wird. Doch ausgerechnet dort ist es besonders laut. Ausreichender Lärmschutz und bauliche Verdichtung: Geht das zusammen? Am Mittwoch sucht der Ständerat eine Antwort. Anlass ist die Revision des Umweltschutzgesetzes.
Nicht zuletzt die Immobilienbranche erwartet den Entscheid mit Spannung. Seit sieben Jahren ertönt aus ihrem Kreis die Klage, es sei praktisch unmöglich geworden, an lauten, verkehrsreichen Lagen zu bauen. Allein in Zürich gab es in den letzten Jahren mehrere erfolgreiche Rekurse gegen grössere Wohnbauprojekte. Die Vorhaben, urteilten die Gerichte, würden die Lärmschutzvorgaben nicht erfüllen. Die Rede ist von mittlerweile gegen 1000 nicht bewilligten Wohnungen im Grossraum Zürich, schweizweit dürften es deutlich mehr sein. Der Hauseigentümerverband Schweiz (HEV) appelliert darum an die Politik: «Es braucht dringend eine Lösung, um das Bauen in lärmbelasteten Gebieten und die Siedlungsverdichtung nach innen zu ermöglichen», sagt Annekäthi Krebs, Rechtskonsulentin beim HEV.
Diese «Lösung» bestand jahrelang in der sogenannten Lüftungsfensterpraxis, ersonnen von der Fachstelle Lärmschutz in der Zürcher Baudirektion. Dank dieser Regel konnten die kantonalen Behörden auch übermässig beschallte Wohnungen bewilligen – sofern diese ein Lüftungsfenster gegen die Hofseite hin aufwiesen. Damit mussten bei allen anderen Fenstern des gleichen Raums, den sogenannten Zweitfenstern, die Grenzwerte nicht eingehalten werden – womit sie auch an Fassaden gegen laute Strassen hin zulässig waren. Die Bewohner könnten diese Fenster ja geschlossen halten, es reiche das erwähnte Lüftungsfenster.
«Radikaler Abbau des Lärmschutzes»
Doch diese Praxis verstösst gegen Bundesrecht, wie das Bundesgericht 2016 feststellte. Gesetzlich korrekt ist es, in einem Wohnraum den Lärm in der Mitte aller offenen Fenster zu messen. Die Immissionsgrenzwerte müssen an allen Fenstern eingehalten werden. Lärm über dieser Schwelle mindert das Wohlbefinden der Menschen erheblich und gefährdet die Gesundheit. In der Schweiz ist tagsüber jede siebte und in der Nacht jede achte Person an ihrem Wohnort davon betroffen.
Umstritten ist allerdings auch der neue Vorschlag der ständerätlichen Umweltkommission, über den die kleine Kammer am Mittwoch befindet. Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, spricht von einem «radikalen Abbau» des Lärmschutzes.
«Wesentlich mehr Menschen würden übermässigem Lärm ausgesetzt.»
Die Kritiker stören sich an mehreren Punkten. Das private Interesse am Bauen soll künftig Vorrang gegenüber dem Lärmschutz haben. Werden heute die Lärmgrenzwerte in Räumen wie Wohn- oder Schlafzimmern überschritten, müssen die Bauherren ein überwiegendes Interesse für ihr Projekt nachweisen. Geht es nach der Mehrheit der Umweltkommission, soll ein überwiegendes Interesse nicht mehr nötig sein.
Eine Baubewilligung soll es neu unter folgenden Bedingungen geben: Entweder wird bei den lärmempfindlichen Räumen eine kontrollierte Lüftung installiert. Oder aber der Grenzwert wird an jeweils einem Fenster in mindestens der Hälfte der lärmempfindlichen Räume eingehalten. Alternativ kann sich diese Vorgabe auf einen lärmempfindlichen Raum pro Wohnung beschränken, sofern zusätzlich ein privat nutzbarer ruhiger Aussenraum geschaffen wird.
Für Rechtsexperte Griffel ist klar: Die Vorlage hätte einschneidende Folgen. «Wesentlich mehr Menschen würden übermässigem Lärm ausgesetzt.» Zudem könnte in lärmigen Gebieten an beliebigen Orten leichter gebaut werden, also auch dort, wo keine Verdichtung erwünscht sei. Das Parlament, so Griffel, müsse eine planerische Gesamtschau vornehmen. In Zukunft soll laut Griffel die Raumplanung festlegen, in welchen Gebieten wie stark verdichtet werden soll und welche Voraussetzungen dafür zu schaffen sind, einschliesslich Massnahmen, um den Lärm an der Quelle zu reduzieren.
Städte sehen das Problem beim Verkehr
Durchgesetzt hatte sich in der ständerätlichen Umweltkommission eine Allianz aus SVP, FDP und der Mitte. Sie agieren jedoch gegen den Willen der Städte. Um in den Städten mehr Bauprojekte umzusetzen, brauche es fraglos Änderungen im Bewilligungsverfahren, sagt Anders Stokholm (FDP), Präsident des Schweizerischen Städteverbands. «Es gilt aber, Augenmass zu wahren.» Die Umweltkommission wolle das Bauen auf Kosten des Lärmschutzes viel zu stark bevorzugen, sagt der Frauenfelder Stadtpräsident.
Der Städteverband schlägt vor, die Lüftungsfensterpraxis zu legalisieren. Noch wichtiger ist ihm, dass die Lärmgrenzwerte möglichst gar nicht erst überschritten werden – indem der Lärm konsequent an der Quelle gemindert wird. Dafür aber müssten die Städte mehr Kompetenzen erhalten, etwa indem sie Tempo 30 ohne Gesuch einführen könnten. «Dies ist der effektivste Weg zur Lärmreduktion», sagt Stokholm. Strassenverkehr sei der mit Abstand grösste Lärmverursacher: Nur: Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen ist umstritten. Die Kantone übersteuern die Städte regelmässig und lehnen Gesuche ab.
Der Hauseigentümerverband Schweiz plädiert ebenfalls für die Lüftungsfensterpraxis, da sie eine erprobte und einfach realisierbare Lösung darstelle. Er trägt den Vorschlag der Umweltkommission aber mit – im Sinne eines Kompromisses, wie HEV-Juristin Krebs sagt. Der Städteverband bezweifelt indes, dass die Vorlage in ihrer aktuellen Ausgestaltung mehrheitsfähig ist. «Falls dies nicht der Fall wäre», sagt Stokholm, «würde die Entwicklung der Städte weiterhin verlangsamt.»
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