Wohnserie «Angeklopft»: Riegelhaus in HirslandenEin Haus in der Stadt Zürich, das aus der Zeit gefallen scheint
Geboren wurde Pierre Boetschi in Warschau. Der Architekt lebte in Brasilien und Burkina Faso, doch seine Heimat war immer ein uraltes Haus am Kapfsteig in Zürich.
Als Pierre Boetschi 1968 das Riegelhaus am Kapfsteig 31 im Stadtzürcher Hirslanden-Quartier kaufte, kehrte er in gewisser Weise zurück zu seinen Wurzeln. Sein Grossvater sei, so erzählt der pensionierte Architekt, in einem sehr ähnlichen Haus im thurgauischen Schönholzerswilen geboren worden. Es sei gut möglich, dass das ein Grund gewesen sei, weshalb er und seine Frau Gret dieses Haus unbedingt hätten kaufen wollen.
Von Riegelhaus zu Riegelhaus. Dazwischen aber ging es bei der Grossfamilie Boetschi alles andere als schweizerisch-bäuerlich zu und her. Der Grossvater wanderte nach Warschau aus und begründete dort ein florierendes Import/Export-Geschäft.
In Warschau wurden auch sein Sohn und sein Enkel Pierre geboren. In einer dunklen Zeit – im März 1939. Am 1. September 1939 marschierte Hitler in Polen ein, der Zweite Weltkrieg begann. Die Boetschis flüchteten in die Schweiz. Erst in den Kanton Solothurn, dann nach Genf.
Überall und nirgends zu Hause
Es begann ein unstetes Leben, denn Pierre Boetschis Vater arbeitete im diplomatischen Dienst. Boetschi wundert sich heute noch, dass man seinen Vater mitten im Krieg nach Berlin versetzte, war doch dessen Mutter Französin und die Frau Polin.
Er war dem Schweizer Gesandten Hans Frölicher zugeteilt, dem später eine zu wenig kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus vorgeworfen wurde. Pierre Boetschi war überall und nirgendwo zu Hause. Mitte der 1950er-Jahre lebte er eine Weile lang in Rio de Janeiro.
Diese Familiengeschichte in bewegter Zeit zwischen Warschau, Berlin und Brasilien scheint so gar nicht zu der Umgebung zu passen, in der sie Boetschi gerade erzählt.
Wir sitzen in einer niedrigen Stube mit Holztäfer, in der noch ein schwarzes Wandtelefon mit Wählscheibe hängt. «Es funktioniert», beteuert Boetschi. Gleichzeitig öffnet er aber eine Tür zu einer steilen Holztreppe und weist auf eine Box an der Wand: «Wir haben aber auch einen Glasfaseranschluss.»
Das Haus scheint hier, an der viel befahrenen Witikonerstrasse, wie aus der Zeit gefallen. Es steht in einem verwilderten Garten. Reben wachsen an der Fassade. Zum Wohnhaus gehörte einst ein Schopf, im Erdgeschoss und einem halb unterirdischen Anbau war lange Zeit eine Galerie eingemietet.
Das Gebäude ist in seiner Grundstruktur wohl rund 300 Jahre alt. Als es gebaut wurde, war hier ein Weiler und die Stadt Zürich reichte noch kaum über die Schanzen hinaus. Natürlich steht es heute unter Denkmalschutz.
Boetschi erzählt allerdings verschmitzt, dass er wohlweislich damit zugewartet hatte, sich mit der Denkmalpflege in Verbindung zu setzen, bis er einiges den damaligen Bedürfnissen angepasst hatte.
Die zwei Schwestern
Bevor Gret und Pierre Boetschi mit ihrer sechs Monate alten Tochter hier einzogen, wohnten zwei alte Schwestern in dem Haus. Sie starben kurz nacheinander im Alter von weit über neunzig Jahren. Boetschi erzählt: «Sie lebten hier noch wie im 19. Jahrhundert.»
Also wohl tatsächlich wie seine Urgrosseltern und sein Grossvater einst im Thurgau. Kein Strom, ein Plumpsklo im Schopf ohne Anschluss an die Kanalisation, kein Badezimmer, kein Warmwasser, gewaschen haben sie sich an einem Brünneli.
In der Küche im ersten Geschoss des Hauses, das die Boetschis bis vor kurzem vermietet haben, ist dieses Leben wie in einer früheren Zeit noch greifbar: Dort steht ein Kochherd mit eingelassenen Pfannen, der mit Holz beheizt wurde.
Daneben sind Ofentürchen in die Wand eingelassen für den Kachelofen mit Ofenbänkli, der die kleine Stube nebenan warm hält.
Den winzigen zweiten Herd, der ans Gas angeschlossen ist, bezeichnet Boetschi als «recht modern». Er dürfte allerdings auch schon gegen 50 Jahre alt sein. «Tuet aber no guet», sagt er. Genauso wie der kleine Gasherd in der Wohnung darüber, die er für seine Familie im zweiten Geschoss und im Dachstock herrichtete.
Emil Landolt half beim Kauf
1968, als das Ehepaar Boetschi das Haus kaufen wollte, mussten sie jeden Franken zweimal umdrehen. Boetschi hatte zwar fünf Jahre zuvor sein Architekturstudium an der ETH Zürich abgeschlossen und arbeitete in einem bekannten Architekturbüro.
Doch hatte er als junger Architekt noch nicht genügend Eigenmittel sparen können. Deshalb musste er zwei künftige Nachbarn anpumpen, die ihm je 2’500 Franken gaben, unter der Bedingung, dass er das alte Haus stehen lässt und ihnen keinen Block vor die Nase setzt.
Zudem hatte er Glück, dass die Hälfte des Hauses der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft gehörte, deren Präsident Emil Landolt (1895–1995) bis zwei Jahre zuvor Stadtpräsident von Zürich war. Ihm lag der Erhalt dieses uralten Hauses am Herzen. Deshalb machte er Boetschi, obwohl höhere Angebote vorlagen, einen guten Preis: 125’000 Franken.
Keine Heizung, kein Strom
Die junge Mutter mit dem sechs Monate alten Säugling wartete allerdings mit Einziehen, bis der Familienvater in seiner Freizeit dafür gesorgt hatte, dass das Haus eine Heizung, eine richtige Toilette und warmes Wasser hatte.
Die Holztreppen sind steil, die Stufen knarzen. An einigen Stellen muss der hoch gewachsene Boetschi den Kopf einziehen, um sich nicht an den Holzbalken zu stossen. Ein Problem, das seine viel kleinere Frau nicht hat. «Ich habe immer gern hier gelebt», sagt sie. Auch wenn es nicht sehr bequem und jetzt im Alter schon etwas beschwerlich sei.
Bilder, Bücher, Souvenirs
Ihr Mann hat es sich mittlerweile auf einem exotisch anmutenden Holzsessel bequem gemacht. Sein Lieblingsplatz. In Reichweite: Bücher, Bilder, Broschüren, Magazine, Pläne. Er tue sich schwer damit, Dinge wegzuwerfen, sagt er mit einem leichten Schulterzucken.
Viele der Bilder hat ihnen der Galerist überlassen, der so einen Teil des Mietzinses beglich. Manche haben Pierre Boetschi und seine Frau selber gemalt.
Umgeben ist er in seiner Lieblingsecke auch von Souvenirs der zahlreichen Reisen, die sie zusammen – teilweise in abgelegenen Gebieten – unternommen haben. 1977 schloss er an der ETH ein Nachdiplomstudium über Probleme der Entwicklungsländer ab. Danach lebte das Ehepaar ein Jahr in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, das damals noch Obervolta hiess.
«Doch wir kehrten immer gern in unser Riegelhaus am Kapfsteig zurück», sagt Pierre Boetschi. Eben zurück zu den Wurzeln.
Wer kennt das nicht? Da spaziert man an einem auffälligen Haus vorbei und fragt sich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen. Genau das ist der Ausgangspunkt der unregelmässig erscheinenden Serie «Angeklopft». Wir fragen nämlich an, ob wir kurz reinschauen dürfen, um etwas über das Haus und seine Bewohnerinnen oder Bewohner zu erfahren.
Wohnen Sie in einem speziellen Haus im Raum Zürich? Oder gibt es ein spezielles Haus, das Sie neugierig macht? Dann melden Sie sich bitte bei helene.arnet@tamedia.ch.
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