Angeklopft: Hof Friesenberg in ZürichSie wohnen in einem Haus mit «Bullerbü»-Charme
Der Schulweg ist steil, die Decken in der Wohnung sind niedrig und die Zimmer ziemlich dunkel. Und doch empfindet die Familie es als Riesenglück, hier wohnen zu dürfen.
Julia hat heute während des Mittagessens ein Reh beobachtet. Sie sass am Esstisch und schaute aus dem Fenster, das den Blick hinaus in den Garten und zur Flanke des Uetlibergs freigibt. Die 14-Jährige lebt mit ihren Eltern, Maja Joss und Lukas Frei, und ihrer 16-jährigen Schwester Ella am Stadtrand. Oder am Waldrand. Das ist Ansichtssache.
An schönen Sonntagen flanieren oder wandern Heerscharen an ihrem Haus vorbei. Manche bleiben stehen und lesen die blaue Tafel, welche die Denkmalpflege an der Hausmauer befestigt hat. Sie erfahren, dass es sich bei diesem Haus, ganz oben an der Friesenbergstrasse, um den «Hof Friesenberg» handelt.
Über die dort vermerkten Jahreszahlen scheiden sich allerdings die historischen Geister. Dazu später. Sicher ist, dass die Bausubstanz des ehemaligen Bauernhofes etwa 700 Jahre alt ist und der erste verbriefte Bauernhof in dem ehemaligen Weiler Friesenberg war.
«Ich glaube, unser Esszimmer war einmal der Rinder- oder Schweinestall», sagt Ella, die sich für die Geschichte ihres Wohnhauses interessiert. Sie besucht das Profil Pädagogik an der Fachmittelschule Zürich Nord und nimmt den Schulweg nach Oerlikon, ans andere Ende der Stadt, gern in Kauf für das Privileg, hier zu wohnen.
Ein Sechser im Lotto
Ihre Eltern sprechen von einem «Sechser im Lotto», wenn sie erzählen, wie sie vor fünfzehn Jahren den Zuschlag für diesen 4-Zimmer-Hausteil erhielten, der der Stadt gehört. Sie wohnten damals an der Seebahnstrasse, die zwar zum selben Stadtteil wie das Quartier Friesenberg, nämlich Wiedikon, gehört, aber unten im Tal liegt. «Wir kannten das Haus von Spaziergängen her.»
Maja Joss erinnert sich noch gut an die Anzeige auf Homegate.ch. Sie entdeckte die Annonce allerdings erst eine halbe Stunde vor dem Besichtigungszeitfenster. So keuchte sie mit dem Velo so schnell wie nur möglich den Hang hinauf, um noch rechtzeitig zu kommen. Das Interesse an der Mietwohnung war – wie erwartet – gross.
«Was schliesslich für uns sprach, weiss ich nicht», sagt Maja Joss. Ihr Partner kann sich allerdings vorstellen, dass sich die Anzahl der definitiven Anmeldungen in Grenzen hielt, weil das uralte Haus auch seine Nachteile hat: niedrige Decken, relativ kleine Zimmer, die nicht sehr hell sind.
Auch die Lage hat ihr Dafür und Dawider. Maja Joss fragte sich damals auch kurz, ob sie mit kleinen Kindern wirklich hierher ziehen möchte, wo sich buchstäblich Hase und Fuchs Gutnacht sagen. Wo es kein Café gibt, in dem man sich spontan mit Freundinnen oder Freunden treffen kann. Und wo sie nach ihrer Arbeit als Psychomotorik-Therapeutin am Feierabend noch den Hang hinaufstrampeln muss.
Für das Haus sprach für sie das «Bullerbü-Gefühl», das Gefühl nach Freiheit, die Naturnähe, der lauschige Garten. «All das so nahe an der Stadt! Das ist eigentlich kaum zu glauben.» Und dann erzählt sie, wie still es hier oben in der Nacht ist und vom vielstimmigen Konzert der Vögel am frühen Morgen.
Deutlich kühler als im Tal
Lukas Frei nimmt den Faden auf: «Hier oben erlebt man die Jahreszeiten viel intensiver als unten in der Stadt.» Er arbeitet in Bern als Brettspiele-Entwickler und bucht das Heimradeln abends gleich als Fitnesstraining ab. Vom Stadtspital Triemli geht es immerhin nochmals 100 Höhenmeter bergauf.
«Es wird beim Hinauffahren jeweils merklich kühler», erzählt Lukas Frei. Im Sommer ist das angenehm, im Winter droht der «Kuhnagel» an den Fingern. Vor allem, wenn noch ein bissiger Wind weht. Auch liegt der Schnee viel länger als unten in der Stadt.
Dort, wo Julia beim Mittagessen das Reh beobachtete, hat ein Sturm vor ein paar Jahren eine Schneise in den Wald am Uetliberg geschlagen. «Wenn es richtig stürmt, ist es manchmal schon fast zum Fürchten», sagt sie.
Julia besucht die dritte Klasse der Sek A im Schulhaus Döltschi. Sie schnupperte in den letzten Monaten in verschiedenen Spitälern, denn sie will eine Lehre als Fachangestellte Gesundheit machen. Den Schulweg bezeichnet sie als «gar kein Problem», hier zu wohnen als ein «grosses Glück». Obwohl sie, um die Nachbarn nicht zu stören, nicht laut Musik hören darf, weil das alte Gebäude ringhörig ist.
Beim Betreten der Wohnung zieht man unweigerlich leicht den Kopf ein. Man spürt, dass die Decke etwa zwanzig Zentimeter niedriger ist als in heutigen Häusern üblich. In einem schmalen Gang stehen sehr ordentlich Schuhe in einer Reihe. Links geht es ins Esszimmer. Dann kommt die Einbauküche.
Doch der Blick wird durch urtümlich anmutende Holzbalken abgelenkt, die wohl auf die alte Bausubstanz des denkmalgeschützten Hauses zurückgehen.
Das lang gestreckte, heute vierteilige Gebäude war wahrscheinlich einst der Hof, der zur Burg Friesenberg gehörte. Ihre Ruine liegt knapp 300 Meter Fluglinie entfernt auf dem Grat. Sie war wohl eine Schenkung der Grafen von Habsburg an das Stadtzürcher Rittergeschlecht Mülner.
Wahrscheinlich wohl – die Geschichte der Burg und des Hofes ist nicht vollends geklärt. Sicher scheint: Die Bauweise dieses Hauptgebäudes geht ins 14. und 15. Jahrhundert zurück.
Manchmal ist auch die Rede von der «alten Mühle». Doch dass der kleine Bach, der unmittelbar am Haus vorbeiplätschert, tatsächlich einmal eine Mühle antrieb, ist nicht belegt. Die städtische Liegenschaft steht seit 1974 unter Denkmalschutz.
Da im Haus nicht allzu viel Platz ist und es hier im Schatten des Uetlibergs abends selbst in den Sommermonaten etwas düster sein kann, verbringt die Familie viel Zeit im Garten, der sich um einen alten Weidenbaum ausbreitet. Es fänden schätzungsweise zwei Tennisplätze darauf Platz.
Den Garten teilen sich die vier Parteien, die in dem historischen Bauernhof wohnen. Allerdings gibt es kein «Gärtchendenken» unter ihnen. Die Kinder konnten immer überall herumtollen, die einst noch vorhandenen Zäune wurden nach und nach entfernt, als junge Familien mit Kindern einzogen. «Wir sind hier fast wie eine grosse Familie aufgewachsen», sagt Ella. Ihre Schulkolleginnen hätten manchmal die Nachbarskinder für ihre Geschwister gehalten.
«Gerade weil die Wohnung nicht sehr gross ist, ist bei uns das Drinnen und Draussen sehr durchlässig», sagt Lukas Frei. Den beiden Töchtern kommt das entgegen. Ella erzählt von den vielen Tieren, die sie hier beobachten können: Blindschleichen, Füchse, Marder und Dachse.
Dazu kommt am Wochenende eine grosse Anzahl der Gattung «Homo sapiens», die vorbeispaziert. Und manchmal äst eben über Mittag ein Reh oben am Hang, dem Julia vom Esszimmer aus zuschauen kann.
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