Verschärfte WohnungsnotZu viele Arbeitsplätze und zu wenig Wohnungen – ist Zürich aus dem Lot?
Die ideale Formel beträgt gemäss einer ETH-Forscherin zwei Einwohner pro Arbeitsstelle. In Zürich ist das Verhältnis 1:1 – mit weitreichenden Folgen für den Wohnungsmarkt.
- Ein neues Hochhaus der UBS soll die Situation auf dem Zürcher Wohnungsmarkt verschärfen, befürchten die Jungen Grünen.
- Mehr Arbeitsplätze bedeuteten mehr Menschen, die in Zürich wohnen wollen.
- Eine ETH-Forscherin fordert ein anderes Verhältnis von Arbeitsplätzen zu Einwohnenden in Zürich.
- Die Stadt und Hochhaus-Befürworter erachten dagegen eine hohe Arbeitsplatzdichte als sinnvoll.
Es tut fast weh in Zürcher Ohren, was die Jungen Grünen im Abstimmungskampf gegen das geplante UBS-Bürohochhaus einwenden: «Zürich hat mehr als genug Arbeitsplätze!»
Die Aussage widerspricht einem Grundsatz, der jahrzehntelang die Zürcher Politik geprägt hat: «Zürich braucht mehr Arbeitsplätze!»
In der Stadt Zürich wird am 24. November über den Gestaltungsplan für einen neuen Büro-Turm der UBS abgestimmt. Die Jungen Grünen haben das Referendum ergriffen. Das Grossprojekt würde Platz für 1600 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. 1100 sind auf dem Grundstück neben dem Bahnhof Altstetten bereits heute angesiedelt. «Viele der künftigen Angestellten werden auch in der Nähe wohnen wollen, guter ÖV-Anschluss hin oder her», sagt Martin Busekros, Gemeinderat der Jungen Grünen. «Die zusätzlichen Jobs werden die Verdrängung aus Zürich verstärken.»
Mehr Beschäftigte als Einwohner
Busekros verweist auf die Europaallee beim Hauptbahnhof, wo 8000 Arbeitsplätze und 400 Wohnungen entstanden sind. Auch die Europaallee liege an bester Pendlerlage. «Aber wegen ihr findet man in der Umgebung keine bezahlbare Wohnung mehr», sagt Busekros.
Die ETH-Wissenschaftlerin für Raumentwicklung, Sibylle Wälty, kann diesen Einwand teilweise nachvollziehen. Sie forscht unter anderem zum optimalen Verhältnis von Arbeitsplätzen und Einwohnenden. Dieses beträgt gemäss Wälty eins zu zwei.
Das entspricht ungefähr der Schweizer Realität, über alle Regionen hinweg gerechnet. Auf jeden Schweizer Arbeitsplatz kommen zwei Schweizerinnen und Schweizer, inklusive Teilzeitbeschäftigten, Kindern oder Pensionierten. Die Stadt Zürich befindet sich allerdings weit entfernt von diesem Verhältnis. Hier gibt es fast gleich viele Vollzeitstellen wie Einwohnende. Die Zahl der Beschäftigten in der Stadt – inklusive Teilzeitjobs – übersteigt die Bevölkerung sogar um 80’000.
Längst nicht alle Menschen, die in Zürich arbeiten, können also in Zürich leben.
Das führt laut Wälty zu zwei negativen Folgen: Der Zürcher Wohnungsmarkt steht unter Druck. Und viele Menschen pendeln. «Das ist schlecht für die Mieterinnen und Mieter, weil die Preise steigen. Und schlecht für die Umwelt, weil Pendeln mit peripherem Wohnen sehr viel Energie und Platz braucht.»
Eine Urbanität, die sparsam mit dem Boden umgeht, funktioniert laut Wälty anders. In sogenannten Zehn-Minuten-Nachbarschaften würden Menschen in direkter Nähe arbeiten und leben, viele Alltagsziele liessen sich zu Fuss erreichen. «Dadurch stellt sich idealerweise das Eins-zu-zwei-Verhältnis zwischen Arbeitsplätzen und Einwohnenden ein», sagt Wälty.
Bis in die 1960er-Jahre wurde kaum gependelt
Diesem Ideal kam Zürich einst ziemlich nahe. Vor rund 60 Jahren lebten in der Stadt fast doppelt so viele Menschen, wie es Jobs gab. Seither nähern sich die beiden Werte einander an.
Bis in die 1960er-Jahre lag Pendeln über grössere Distanzen gar nicht drin, sagt Sibylle Wälty. Zu lange hätte das gedauert. «Doch der Ausbau der Autobahnen und des Zugnetzes ermöglichten das Wohnen im Grünen.» Die Stadtflucht setzte ein. Bis Mitte der 90er-Jahre schrumpfte die Zürcher Bevölkerung.
Gleichzeitig förderte die Politik die Entwicklung Zürichs zur Dienstleistungsstadt. Das Schaffen von Arbeitsplätzen sei einfacher geworden als das Bereitstellen von Wohnraum, sagt Wälty. Hunderte von Bürogebäuden entstanden.
Ab Mitte der 1990er-Jahre kehrten die Menschen in die Städte zurück. Seither wächst Zürichs Bevölkerung wieder. Gleichzeitig steigt die Zahl der Arbeitsplätze bis heute aber weiter an, auch, weil Zürich viele Firmen anlockt.
Dazu kommt, dass die Stadtzürcherinnen und -zürcher (aber nicht nur sie) grössere Wohnungen brauchen als in den 1960er-Jahren. «Sonst könnten heute deutlich mehr Menschen in der Stadt leben», sagt Wälty.
Seit drei Jahren ist das Ideal der «Stadt der kurzen Wege» im Stadtzürcher Richtplan verankert. «Aber um wirklich etwas zu bewirken, muss die Stadtpolitik die veraltete Bau- und Zonenordnung (BZO) ändern», sagt Sibylle Wälty. Und zwar so, dass diese die Erstellung von zusätzlichem Wohnraum erleichtere. Zudem müsste die Stadt immer, wenn sie neue Arbeitsplätze zulässt, zugleich mehr Wohnungen ermöglichen, sagt Wälty.
Genau das wollen die Hochhaus-Gegnerinnen. Auf dem Grundstück, wo der UBS-Turm entstehen soll, erlaubt die aktuelle Bauordnung keine Wohnungen. Die Jungen Grünen fordern daher, dass die UBS als Kompensation für die zusätzlichen Arbeitsplätze der Stadt Land oder Wohnungen abtreten soll.
Bei der Stadt Zürich heisst es, dass man das Verhältnis Arbeitsplätze zu Einwohnenden bei der Beratung des kommunalen Richtplans «intensiv diskutiert» habe. Zürich gehöre aber zu einer Agglomeration und sei der Standort von Hochschulen, Spitälern oder Firmenhauptsitzen. «Wegen dieser zentralörtlichen Aufgaben wurde im Richtplan das Verhältnis von eins zu zwei nicht zur Zielgrösse erhoben», sagt Nadine Markwalder, Sprecherin im Präsidialdepartement von Corine Mauch (SP).
Derzeit arbeitet die Stadt an einer Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO), mit dem Ziel, gewisse Quartiere mit zusätzlichen Wohnungen zu verdichten. Aber auch das Arbeiten solle Platz haben in der Stadt, sagt Markwalder. Das Grundstück des UBS-Hochhauses eigne sich dank seiner Lage bestens für eine Weiterentwicklung. «Dabei gehen keine bestehenden Wohnungen verloren.»
Befürworter sagen: Zürich ist Zentrum
FDP-Gemeinderat Flurin Capaul hält das Eins-zu-zwei-Verhältnis für «unstädtisch». Zürich sei kein Dorf und höre auch nicht an den Stadtgrenzen auf. In allen Städten mit Zentrumsfunktion – ob Genf oder New York – gebe es viel mehr Jobs als Wohnungen. «Diese Konzentration von Arbeitsplätzen macht unternehmerisch und verkehrstechnisch Sinn», sagt Capaul.
Viele Menschen würden gar nicht in der Stadt leben wollen, sondern lieber zum Arbeitsplatz pendeln. «Wir sind zum Glück frei, unseren Wohnsitz zu wählen», sagt Capaul. Und wenn an einem Ort wie dem UBS-Hochhaus Büros konzentriert werden, ergäben sich in anderen Gebäuden Chancen für Neues, «je nach Zone sogar Wohnungen».
Kritik an der Trennung von Wohn- und Arbeitsort kam übrigens schon früher auf. Aus diesem Grund bekämpfte die Poch, eine Vorgängerpartei der Grünen und der AL, 1981 die geplante Zürcher S-Bahn. Ohne Erfolg. Der Kanton stimmte mit über zwei Dritteln dafür.
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