Reise von Tokio bis OsakaWo Geduld und Hightech im Einklang stehen
Teezeremonien, Tempel, Hochgeschwindigkeit: Japan fasziniert, denn Tradition und Moderne harmonieren hier. Wer sich bewusst auf diese Zeitreise zwischen gestern und heute einlässt, entdeckt einen tieferen Sinn.
Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie
Tokio macht mir die erste Begegnung leicht. Auf der Fahrt vom Flughafen ist es in der weltgrössten Metropole bereits mitternächtlich ruhig. Und am nächsten Morgen führt mich mein Reisebegleiter Jörg Albrecht im Zentrum der bereits geschäftigen Megacity in die Stille einer weitläufigen Parkanlage. In ihr duftet es nach Eukalyptus, Harz und Tannenholz, und statt Autolärm ist Vogelgezwitscher zu hören. «Der Park gehört zu einem der bedeutendsten Shinto-Schreine und ist dem 1912 verstorbenen Kaiser Meiji gewidmet», sagt der 51-jährige Kölner Japanologe, der mit einer Japanerin verheiratet ist und viele Jahre in Japan lebte.
Der Tenno, wie der Kaiser in Japan heisst, stehe für den Sprung Japans aus dem Mittelalter in die Moderne, erklärt Albrecht. Unter seiner Führung wurde das Land 1868 nach Jahren der Abschottung gen Westen geöffnet, das feudalistische Kastensystem der Shogune aufgehoben, ein Parlament eingesetzt und Japan im Eiltempo industrialisiert, erfahre ich, während wir einer Allee folgen. Bald kommen wir zum mächtigen Eingangstor des Schreins und zur Gebetshalle, deren geschwungenes Satteldach auf kräftigen Holzsäulen ruht.
Priester in blütenweissen Hakamas, den weiten Rockhosen, huschen über den Innenhof, Besucher stehen in Gedanken versunken vor der Gebetshalle, andere beschriften Holztäfelchen mit Bitten und Wünschen an den Geist des Meiji. Ein Junge möchte gross und stark werden, liest Jörg vor, um gute Noten bittet eine Schülerin. Offensichtlich glaubt sogar die Smartphone-Generation an die Welt der Götter und Geister.
Diese Reise ist ein Angebot der Schweizer Familie, mehr Infos finden Sie hier.
Ein Besuch der ruhigen Oase mit der Schreinanlage, einem idyllischen Seerosenteich und einem schlichten Teehaus ist wie ein Ausflug in das traditionelle Japan, die Schreintore an ihrer Aussengrenze werden zu den Nahtstellen, hinter denen das moderne Japan beginnt: der schicke Omotesando-Boulevard, der wegen seiner Nobelboutiquen und Cafés als die Champs-Élysées Tokios bezeichnet wird, und das Einkaufsviertel Ginza mit den grossen Schaufenstern grosser Warenhäuser.
Der Stadtteil Akihabara, das Mekka der Elektronikfans, mit seinen Neonreklamen und den als Comic-Helden verkleideten Jugendlichen. Oder Shinjuku, das Viertel mit den höchsten Bürotürmen. Und gleich daneben das etwas schmuddelige Vergnügungsviertel Kabukicho mit Nachtclubs und Discountläden. Doch auch in der hektischen Grossstadt gilt, was mir überall angenehm auffällt: Niemand drängelt, man bleibt selbst im grössten Gedränge freundlich und höflich.
Die Metropole wächst weiter
Der Blick vom erstaunlich schlanken Tokyo Skytree, dem mit 634 Metern höchsten Fernsehturm der Welt, zeigt die Ausdehnung der Metropole, die aus vielen Subzentren besteht. In alle Richtungen wuchern Hochhäuser, Wohnblocks und Wohnviertel mit schmalen Einfamilienhäusern bis zum Horizont.
Am Abend schippern wir auf einem sogenannten Yakatabune in die Bucht von Tokio, die dicht von der Stadt eingerahmt wird. Unser Yakatabune ist ein Ausflugsboot im Stil der alten Zeit, und zusammen mit zwei jungen Tokioterinnen in bunten Kimonos, die auf dem Bootsdeck Selfies machen, wird es vor der Skyline der glitzernden Wolkenkratzer zum Sinnbild für die Gleichzeitigkeit des alten und des modernen Japan.
Im eleganten Schnellzug in die Natur
Am nächsten Morgen lotst mich Jörg durch den dichten Pendlerstrom im Tokioter Hauptbahnhof zum Bahnsteig für unseren Shinkansen-Zug Richtung Süden. Auf dem Boden stehen die Nummern der Waggons, der raumschiffähnliche Hochgeschwindigkeitszug hält sekundengenau und auf den Zentimeter exakt bei den Markierungen. Und schon katapultiert er uns aus der Megametropole in die Abgeschiedenheit des Fuji Hakone-Izu-Nationalparks.
Die rund 100 Kilometer westlich von Tokio gelegene Hügellandschaft mit ihren dichten Wäldern, malerischen Seen und heissen Quellen war schon zu Zeiten der Samurais ein beliebtes Erholungsziel. Zudem ist sie die Heimat des heiligen Berges Fujisan. Wir hatten gehofft, das bekannteste Wahrzeichen Japans von nahem sehen zu können. Doch Dunstwolken verhüllen den Vulkanberg, nur schemenhaft ist seine makellose Kegelform zu erkennen.
Wir übernachten am Fuss des Fujisan, am Ufer des malerischen Kawaguchi-Sees, in einem Ryokan, einem traditionellen Gasthaus, dessen Räume im klassisch schlichten Stil eingerichtet sind. Man trägt einen Kimono als Hauskleidung und huscht auf leisen Pantoffelsohlen zum Abendessen, das aus unzähligen Schälchen und Tellerchen mit Gedünstetem, Frittiertem und Eingelegtem besteht, jeder Gang ein hübsch arrangiertes Stillleben, das ich kaum zu zerstören wage. Anschliessend tauche ich in das heisse Thermalwasser des hauseigenen Onsen. Allerdings nicht ohne mich gründlich abgeschrubbt zu haben, wie es mir mein Reisebegleiter als wichtigste Baderegel eingebläut hat, um nicht zu sehr als «Gaijin», als ignoranter Fremder, aufzufallen.
In Ainokura hat Yuniko Nakatani am nächsten Abend bereits unsere Futons auf den Schilfstrohmatten ausgerollt, an der Feuerstelle garen zwei Fische. Die Fahrt von der Küste zu dem 150-Seelen-Dorf in den Japanischen Alpen, in dem Yuniko mit ihrem Mann wohnt, scheint endlos.
Immer schroffer werden die Berge, noch enger die Schluchten, bis sich ein Tal mit einigen Dörfern öffnet, an denen die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein scheint. Zwischen Reis- und Gemüsefeldern stehen wie eh und je Fachwerkhäuser, die wegen ihrer steilen Strohdächer Gassho-zukuri genannt werden, betende Hände.
«Sehr einsam war es hier früher», bestätigt Yuniko, während sie in ihrer Küche eine mehrgängige Kaiseki Komposition zaubert. Nur über den Fluss konnte man die Dörfer erreichen. Ihre Bewohner konnten in der Abgeschiedenheit bis in die 1970er-Jahre gut von den Seidenraupen, die sie im Dachboden züchteten, und vom handgeschöpften Büttenpapier leben. Danach sei glücklicherweise die Strasse durch die Berge gebaut worden, sagt Yuniko: «Und nun können wir von den Feriengästen leben.»
Weiter geht es nach Kanazawa am Japanischen Meer an der Westküste der Insel Honshu. Die lebhafte Grossstadt mit Universität und Seehafen liegt von Tokio aus gesehen eigentlich in tiefster Provinz. Doch vor der Meiji-Ära herrschte hier im Schatten der Japanischen Alpen, die sich wie ein Riegel zwischen die beiden Städte schieben, eine der reichsten und mächtigsten Daimyo-Familien.
Der Kenrokuen, einer der schönsten Landschaftsgärten Japans, zeugt von deren Wohlstand und von ihrem Sinn für Kunst und Kultur. Die Prachtanlage, angelegt für das beschauliche Lustwandeln der Fürstenfamilie, gilt als perfektes Beispiel japanischer Gartenkunst. Nichts ist hier zufällig, weder die Lage des Teehauses an einem Teich noch der Verlauf der Spazierwege oder der Bewuchs mit Moos. Bäume und Blumen stehen so, dass sie je nach Jahreszeit farbliche Akzente setzen.
Kleine Wäldchen wechseln sich ab mit aussichtsreichen Hügeln und malerischen Felsformationen mit einem künstlich angelegten Wasserfall. Selbst die Gärtner mit ihren breiten Strohhüten, die mit unglaublicher Geduld unter knorrigen Bäumen Unkraut aus einem Rasen zupfen, wirken, als wären sie ein Teil des Gartens.
Die junge Geisha parliert meisterhaft
Erhalten geblieben sind in Kanazawa zudem das ehemalige Wohnquartier der Samurai und einige der Strassenzüge in den früheren Vergnügungsvierteln. Viele der schmalen zweistöckigen Holzhäuser sind heute noble Restaurants und Ausgehlokale. Nur noch wenige dienen als klassische Teehäuser, in denen wie einst Geikos, wie die Geishas in Kanazawa heissen, ihre vielseitigen Unterhaltungskünste zeigen. «Viele junge Frauen schreckt die lange Ausbildung ab, in der sie Musizieren, Tanz, Kalligrafie, Ikebana, die Kunst der Teezubereitung und gepflegte Konversation lernen müssen», erklärt die 51-jährige Yaeko Yoshikawa, die uns in ihrem Teehaus im Higashi-Viertel Rotwein einschenkt.
Statt einiger zehntausend wie vor 100 Jahren gebe es landesweit nur noch einige hundert dieser «Personen der Künste». Yaeko hat jedoch in der 25 Jahre jungen Shichiha eine Schülerin gefunden, die bereits die Kunst des zwanglosen Parlierens so meisterhaft beherrscht, dass man sich umgehend in der kleinen Teestube wohlfühlt.
Zu Shichiha passt das Bild von der künstlichen und puppenhaften Steifheit einer Geisha nicht, das Filme und Fotos gerne vermitteln. Kichernd holt sie ein Smartphone aus den weiten Ärmeln ihres Kimonos und zeigt uns Fotos von Ausflügen mit Freundinnen und Freunden in freier Natur. Eine moderne junge Frau entdeckt man hinter dem weiss geschminkten Gesicht und unter der kunstvoll hochgesteckten Perücke. Für Shichiha ist mit der Ausbildung zur Geiko ein Traum in Erfüllung gegangen: «Ich war schon als Kind von der traditionellen Kultur fasziniert und habe gerne getanzt und gesungen.»
Plötzlich klatscht Yaeko in die Hände: «Wir müssen ja noch arbeiten», ruft die Lehrerin gespielt ernst und greift zu einer langstieligen Laute. Dann beenden die beiden ihr klassisches Entertainment mit einem Herbstlied, das Shichiha auf Trommeln und Yaeko mit der metallisch klingenden Shamisen begleiten.
«Man sagt Kyoto einen gewissen Dünkel nach», sagt Jörg Albrecht, während wir uns anderntags im Expresszug der Stadt nähern. Über tausend Jahre war Kyoto die Residenz der japanischen Kaiser, bevor mit dem Meiji Tenno 1868 zum ersten Mal ein japanischer Kaiser in Tokio den Thron bestieg. Doch noch immer hält sich Kyoto für das geistige Zentrum Japans.
Mit etlichen hundert Tempeln und Schreinen, mit einigen der schönsten Landschafts- und Zen-Gärten sowie mit authentisch gebliebenen Geisha-Vierteln und ihren Teehäusern hat es auch einigen Grund für dieses Selbstbewusstsein. Allein die kleine Auswahl dieser Zeugen einer glanzvollen Zeit im alten Japan, die wir bei unserem Besuch besichtigen können, zeigt das Können der Künstler und Baumeister, die mit ihrem Verständnis für Natur und Technik formschöne und ästhetisch ansprechende Werke schufen. So wie den Higashi-Honganji-Tempel, der als eines der grössten Holzgebäude der Welt gilt und bei aller Wucht der mächtigen Tragbalken erstaunlich graziös wirkt. Oder der Zen-Tempel Tenryuji, dessen wunderschöner Garten selbst eilige Touristen zum längeren Verweilen verführt. Und am Abend versetzt mich das historische Ausgehviertel Gion mit seinen Teehäusern, vor denen Papierlaternen die schmalen Gassen in ein geheimnisvolles Licht tauchen, in die Zeit der Samurais und Geishas.
Häppchen aus der Bento-Box
Noch einmal picken wir im Shinkansen-Zug kulinarische Häppchen aus unseren Bento-Boxen, diesen wie Geschenke verpackten und mit stäbchengerecht portionierten Köstlichkeiten gefüllten Lunchpaketen. Wir sind auf dem Weg zu unseren letzten Stationen Hiroshima und Nagasaki, den Städten, deren Namen sich mit dem Abwurf der ersten Atombomben im August 1945 ins kollektive Gedächtnis der Menschen gebrannt haben.
Im Friedensmuseum von Hiroshima betrachten die Buben und Mädchen einer Schulklasse mit stummem Grauen die Bilder von der zerstörten Stadt und dem Leiden der Menschen. Nach dem Museumsbesuch stellen sich die Kinder ungewöhnlich ernst vor der «Flamme des Friedens» zum Klassenfoto auf, die erst erlöschen soll, wenn die letzte Atombombe vernichtet worden ist. Wie viele Generationen wohl noch vor dem brennenden Mahnmal stehen werden?
Hiroshimas Schicksal ist ein beständiger Appell zu Frieden und Abrüstung. Doch es würde Stadt und Bewohnern nicht gerecht, würde man nur über die schlimme Vergangenheit reden. Das Hiroshima von heute zeigt sich im Zentrum quirlig und modern. Die Region biete viel Lebensqualität, erzählen die Gäste in einem Okonomiyaki-Restaurant. Das Besondere hier ist nicht nur die heimische Spezialität, ein Teigfladen, auf den Kohl, Speck, Gemüse oder andere Zutaten geschichtet werden. Sondern auch, dass die Gäste alle an einem Tresen sitzen, auf dem direkt vor ihnen die Okonomiyaki auf einer heissen Herdplatte gefüllt, gewendet und gegrillt werden.
In Hiroshima sei das Leben entspannt, sagen unsere Nachbarn. Andere zählen das gute Klima, die Strände und die nahen Berge auf. Und Köchin Yuki Ninomiya schwärmt von dem Umami der Austern aus der Bucht von Hiroshima und legt ein paar pralle Exemplare auf die heisse Teppan-Platte. Sie schmecken nur leicht salzig und erstaunlich fleischig. Umami eben, einfach köstlich!
Schon die Ankunft im modernen Bahnhof von Nagasaki stimmt mich heiter. Was an dem weiten Blick über die fjordähnliche Bucht liegt, den man von einer hellen Glaskuppel aus hat. Aber auch an dem gleissend hellen Licht über der Stadt, die sich um den Naturhafen gruppiert und deren Wohnviertel sich bis auf die grünen Hügel ausdehnen.
Europäer halfen bei der Industrialisierung
Mit Nagasaki haben wir Kyushu, die südlichste der vier Hauptinseln Japans, erreicht. Von hier ist das asiatische Festland nah, und dies ist auch der Grund, weshalb Nagasaki mit seinem Hafen zum Tor zur Aussenwelt wurde. Hier landeten als erste Europäer im 16. Jahrhundert die Portugiesen, die jedoch bald vertrieben wurden, weil den Shogunen ihr missionarischer Eifer verdächtig wurde. Danach beschränkte sich der Kontakt mit Fremden auf eine streng abgeschirmte Handelsstation der calvinistischen Holländer, die auf der schmalen künstlichen Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki eingerichtet worden war. Erst mit der Meiji-Restauration durften Ausländer wieder in der Stadt wohnen.
Es kamen Abenteurer, die bei der rasanten Industrialisierung mitmischten. Einige ihrer Häuser sind im Glover Garden zu sehen, einem Freilichtmuseum. Es ist benannt nach dem Schotten Thomas Glover, der 1859 in Nagasaki an Land ging und innert kurzer Zeit zum wohlhabenden Unternehmer wurde. Seine Villa im Kolonialstil, mit Wintergarten, gediegenen Salons und breiter Veranda ist das selbstbewusste, keineswegs protzige Denkmal eines erfolgreichen, aber bescheiden gebliebenen Selfmademans.
Mit einer Virtual-Reality-Brille lässt uns das Museum in das Nagasaki reisen, wie es Thomas Glover erlebte und wie die Ortschaften damals überall ausgesehen haben dürften. Schmale Hütten stehen in engen Gassen, aus den umliegenden Hügeln schauen die Giebel von Tempeln und Schreinen, im Hafenbecken ankern Segelschiffe. Würde der Unternehmer heute von seiner Gartenterrasse blicken, wäre er erstaunt über den Wandel, den das Land seit dem Kontakt mit der westlichen Welt vollzogen hat. Er würde die moderne Stadt sehen, in deren Hafen grosse Kreuzfahrtschiffe und schicke Jachten ankern, er würde staunen, wie gross die Werft geworden ist, die er damals mitgegründet hat, und er wäre vielleicht begeistert von der eleganten Hängebrücke, die die Hafeneinfahrt überspannt.
Mir hat meine Reise gezeigt, dass es nicht nur dieses moderne Japan gibt, das einen mit seinen futuristischen Schnellzügen, quirligen Grossstädten und immensen Wolkenkratzern überwältigt. Sondern auch das alte Japan mit seinen stillen Landschaftsgärten, althergebrachten Gasthöfen und einem tief verwurzelten Volksglauben. Der unverkrampfte Umgang mit diesem vielfältigen Nebeneinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist für mich das Faszinierende an Japan.
Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit unserem Partner Tourasia.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.