Leser fragenWird die Menschheit durch das Virus etwas lernen?
Die Antwort auf eine Leserfrage zum Coronavirus.
Wie wahrscheinlich oder, pessimistisch formuliert, wie unwahrscheinlich ist es wohl, dass die Menschheit durch Corona etwas lernt und ihr Verhalten nachhaltig ändert: in Bezug auf Konsum, Reiserei, Mobilität allgemein und auch Sozialverhalten? Ich gebe zu, dass ich Corona dankbar bin, wenn im besten Fall ein Überdenken ausgelöst wird. C.J.
Liebe Frau J.
Man sollte Katastrophen nicht zu «Chancen» umfunktionieren. Gewiss wird sich wegen der Corona-Pandemie manches ändern, vieles aber auch nicht.
Die Aids-Pandemie hat auch einige Veränderungen ausgelöst: Sie hat den «Safer Sex» hervorgebracht und wider alle anfänglichen Erwartungen die Schwulenbewegung vorangebracht. Letzteres war ein überraschender Kollateralnutzen, aber nicht die kausale Folge der Pandemie: Der negative Fokus, der zunächst auf die Homosexuellen als Verbreiter der neuen Seuche gerichtet war, verschob sich ins Positive in dem Masse, als die Schwulen schnell zur Avantgarde eines vernünftigen Präventionsbewusstseins wurden.
Man weiss nicht, welche Fäden Corona in die Zukunft hinein ziehen wird. Daraus die Lehre zu ziehen, dass wir mehr wirtschaftlichen Stillstand brauchen, damit die Luft wieder sauber wird, halte ich für fatal. Vor kurzem war in dieser Zeitung das Porträt eines 78-Jährigen zu lesen, der für seine Enkel ein Corona-Märchen geschrieben hat: Corona, «ein unscheinbares, stilles Virus» (jöö!), wird von «Mutter Erde» ausgewählt, um den Menschen zu zeigen, «dass sie gefrevelt haben, rücksichtslos ausgebeutet haben, mir alle meine Schätze und Ressourcen gestohlen haben». Muss man erklären, dass das nichts anderes als die Kitschversion der ökodemografischen Fascho-Ideologie ist, die Corona als Strafe für und als Mittel gegen die «Überbevölkerung» betrachtet. (Dass das Virus ausgerechnet seinen Anfang im für seine Ein-Kind-Politik berüchtigten China genommen hat, wollen wir gar nicht erst als Gegenargument in Anschlag bringen: Hier gibt es nämlich nichts zu argumentieren, sondern Humanität zu verteidigen.)
Was sich durch diese Pandemie hoffentlich ändern wird, ist eine besser ausgerüstete Vorsorgehaltung von notwendigem Medizinmaterial. Man wird nachträglich die Gefahr der Schweine- und Vogelgrippe anders einschätzen und sich hoffentlich weniger über Vorsichtsmassnahmen lustig machen.
Die gründlichere Art des Händewaschens wird möglicherweise zu einer Gewohnheit; das Händeschütteln verliert etwas von seiner zentralen Rolle im abendländischen Wertekatalog (vor allem, wenn die Schüttler verpfnüselt oder vergrippt sind). Auch können Skype-Kontakte manche mühselige Reise ersetzen. Alles gut so. Die leichtfertige Verknüpfung von Katastrophen mit Utopien aber sollte einen misstrauisch machen.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch
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