Botschafter im Interview«Wir müssen uns auf Situationen einstellen, mit denen wir noch nie konfrontiert waren»
Die Weltsicherheit war seit dem Zweiten Weltkrieg selten so gefährdet wie heute. Just jetzt wird die Schweiz Mitglied des UNO-Sicherheitsrats. Botschafter Thomas Gürber sagt, man sei auf alles vorbereitet.
Herr Botschafter Gürber, jetzt gilt es ernst. Ab dem 1. Januar ist die Schweiz Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Sind Sie nervös?
Natürlich ist die Mitarbeit im UNO-Sicherheitsrat für die Schweiz eine komplett neue Erfahrung. Wir müssen uns auf Situationen einstellen, mit denen wir noch nie konfrontiert waren. Aber ein flaues Gefühl habe ich deswegen nicht. Wir sind bereit.
Selbst wenn in der Silvesternacht eine Krisensitzung einberufen würde, wie es auch schon vorkam?
Ja. So funktioniert der Sicherheitsrat. Wenn es eine Minute nach Mitternacht eine Krise gibt und ein Mitglied eine Dringlichkeitssitzung einberuft, dann ist die Schweiz dabei. Wir haben uns während Monaten auf solche Situationen vorbereitet, sowohl auf aktuelle Dossiers als auch auf Prozesse.
«Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine grosse Erschütterung ausgelöst, auch im UNO-Sicherheitsrat.»
Wenn man die globale Sicherheit betrachtet, tritt die Schweiz ihr Mandat zu einem heiklen Zeitpunkt an.
Das stimmt. Seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt nicht mehr dieselbe. Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine grosse Erschütterung ausgelöst, auch im UNO-Sicherheitsrat. Er hat zu Blockaden und erheblichen Spannungen geführt. Aber man darf nicht vergessen: UNO-Gremien wurden nicht dafür geschaffen, die Harmonie zu verwalten. Sie wurden geschaffen, damit Probleme trotz aller Spannungen diskutiert werden können.
Der sogenannte Weltsicherheitsrat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um die weltweite Sicherheit zu garantieren. Es war nicht vorgesehen, dass eine Vetomacht wie Russland zum Aggressor wird und das Völkerrecht verletzt.
Das ist in der Tat eine schwierige Situation. Die Veto-Prärogative waren Konzessionen an die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Auf kurze Frist ist es nicht realistisch, diese Konstruktion grundlegend zu verändern. Aber es ist der einzige Sicherheitsrat, den wir haben – und wir müssen versuchen, ihn so gut wie möglich zu nutzen.
Wann hat man das letzte Mal etwas Relevantes vom Sicherheitsrat gehört?
Der Fokus lag in den letzten Monaten stark auf der Ukraine. Es ist aber nicht so, dass der Sicherheitsrat vollständig blockiert ist und keine relevanten Entscheide fällen kann. Er hat in den letzten Monaten eine Reihe wichtiger Entscheide gefällt. Der Hauptfokus liegt auf Afrika, wo die meisten Konflikte und UNO-Missionen stattfinden. Der Sicherheitsrat hat Friedensoperationen bewilligt, angepasst oder verlängert – in Libyen, Somalia, dem Sudan, dem Südsudan, Zentralafrika, dem Kongo, in Bosnien-Herzegowina und weiteren Staaten. In den letzten Tagen forderte der Sicherheitsrat die Freilassung von Aung San Suu Kyi und anderen politischen Gefangenen in Burma, und er mahnte die Taliban-Regierung an, die Massnahmen gegen Frauen und NGOs zurückzunehmen. Das sind sehr wichtige Signale, gerade auch für die Betroffenen.
In der Ukraine ist eine Intervention jedoch unmöglich, weil die Vetomacht Russland Krieg führt. Russland blockiert alles.
Der Sicherheitsrat ist ein politisches Organ. Es wird immer politische Überlegungen geben, selbst wenn keine Vetomacht von einer Aggression betroffen oder für eine solche verantwortlich ist.
Droht der Schweiz nicht, zwischen den Machtblöcken zerrieben zu werden?
Die Schweiz geniesst eine grosse Glaubwürdigkeit, weil sie mit allen Akteuren spricht. Sie kann in sämtlichen UNO-Gremien eine vermittelnde Rolle spielen. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Schweiz nicht instrumentalisieren lässt. Wir haben unseren Prinzipienkompass: die Treue zum Völkerrecht.
Im Ukraine-Krieg hat sich die Schweiz klar positioniert. Wie geht sie im Sicherheitsrat mit Russland um?
Wenn so etwas passiert, muss sich die Schweiz so oder so positionieren. Im Sicherheitsrat werden wir versuchen, einen Grundsatzentscheid weiterzuverfolgen: Alle fünf Vetomächte stimmten für eine Stärkung der Rolle des UNO-Generalsekretärs. Das ist der Anknüpfungspunkt für uns.
Die Schweiz übernimmt besondere Aufgaben im Sicherheitsrat. Eine davon betrifft Nordkorea. Was bedeutet das?
Wie alle nicht ständigen Mitglieder übernimmt die Schweiz bestimmte Aufgaben. Es gibt 15 Sanktionsausschüsse, und es zeichnet sich ab, dass die Schweiz einen davon präsidiert, nämlich jenen zu Nordkorea. Es ist aber noch nicht bestätigt.
«Als Damoklesschwert hängt die Situation von Taiwan über dem Rat.»
Das Serbien-Kosovo-Dossier ist spannungsgeladen. Kündigen sich weitere explosive Dossiers an?
Als Damoklesschwert hängt die Situation von Taiwan über dem Rat. Darauf bereiten wir uns vor. Wir stellen uns die Frage: Was bedeutet eine allfällige Eskalation rund um Taiwan für die Rolle des Sicherheitsrats und der Schweiz?
Mit Eskalation meinen Sie einen chinesischen Angriff auf Taiwan. Hat die Schweiz bereits festgelegt, wie sie reagieren würde? Würde sie für Sanktionen stimmen?
Über Sanktionen muss man immer auf der Grundlage einer Güterabwägung entscheiden. Die Schweiz würde beurteilen, ob Völkerrecht verletzt wurde. UNO-Sanktionen würde die Schweiz wie immer übernehmen.
Wenn China Taiwan angreift, wäre das ein extremer Stresstest für den Sicherheitsrat.
Ein solches Szenario würde nicht nur den Sicherheitsrat, sondern die ganze Welt enorm belasten. Die Folge wären wirtschaftliche Erschütterungen, die weit über das hinausgehen, was wir zurzeit im Ukraine-Krieg erleben.
«Dass die Schweiz Taiwan nicht als Staat anerkennt, heisst nicht, dass es keine völkerrechtlichen Verpflichtungen gibt.»
Die Schweiz anerkennt Taiwan völkerrechtlich nicht als Staat. Kann sie einen Angriff von China auf Taiwan überhaupt verurteilen?
Dass die Schweiz Taiwan nicht als Staat anerkennt, heisst nicht, dass es keine völkerrechtlichen Verpflichtungen gibt. Solche gibt es auch, wenn es um autonome Gebietskörperschaften geht. Zum Beispiel im Bereich des humanitären Völkerrechts.
Aber es ist absehbar, dass eine Resolution gegen China im Sicherheitsrat chancenlos wäre. Die Situation wäre ähnlich wie mit Russland. Der Sicherheitsrat müsste wieder auf die Generalversammlung als sanktionierende Körperschaft ausweichen.
Wenn es zu einem ähnlichen Szenario kommt wie in der Ukraine, würde die Debatte in die Generalversammlung gehen – gemäss dem neuen Mechanismus, den das Fürstentum Liechtenstein entwickelt und die Schweiz mitunterstützt hat. Das würde uns die Gelegenheit geben, unsere Position zu präsentieren, und die blockierende Vetomacht müsste ihre Position erklären. Das ist sehr im Sinn des Ziels, die Transparenz zu erhöhen.
Ist die Mitgliedschaft der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat die grösste Operation in der Schweizer Diplomatiegeschichte?
Es ist sicher eine anspruchsvolle Episode. Die Schweizer Diplomatie war aber in verschiedenen Phasen der Geschichte gefordert. Sicher ist: Die Schweiz kann Verantwortung tragen und ihren verfassungsmässigen Auftrag wahrnehmen. Sie kann zur Sicherheit auf der Welt beitragen.
Pascale Baeriswyl ist als UNO-Botschafterin in New York, Sie sind als Botschafter im Aussendepartement hier in Bern. Was ist in diesen zwei Jahren genau Ihre Aufgabe?
In der UNO-Abteilung in Bern klären wir, wie sich die Schweiz zu einer bestimmten Frage positioniert, das Team in New York setzt die Instruktionen am Verhandlungstisch um. Wir nutzen eine erprobte elektronische Plattform, um alle involvierten Stellen in der Bundesverwaltung einzubeziehen. Dadurch sind wir in der Lage, uns innerhalb von kurzer Zeit einen Überblick zu verschaffen.
Wann würde der Bundesrat einbezogen?
Wenn es um eine grundlegende Änderung der Schweizer Position geht, zum Beispiel zum Nahen Osten. Oder wenn es innerhalb der Verwaltung unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten gibt. Auch neue Sanktionen sowie die Autorisierung einer militärischen Intervention müssen dem Bundesrat vorgelegt werden. Dazu würden ausserdem die Präsidenten der Aussenpolitischen Kommissionen konsultiert.
«Wenn ein rascher Entscheid nötig ist, dann ist ein rascher Entscheid möglich – auch ein Bundesratsentscheid.»
Zuweilen trifft sich der Sicherheitsrat kurzfristig. Ist der Bundesrat in der Lage, innerhalb von wenigen Stunden zu entscheiden?
Wir haben in einer dreiwöchigen Testphase alles durchgespielt. Wenn ein rascher Entscheid nötig ist, dann ist ein rascher Entscheid möglich – auch ein Bundesratsentscheid. Dass etwas über Nacht geschieht, ist allerdings selten. Wichtig ist auch das Aussennetz: Die Botschaften und die Kooperationsbüros können rasch Einschätzungen beisteuern.
Welches sind die wichtigsten Ziele der Schweiz?
Dass es uns gelingt, die vier thematischen Prioritäten umzusetzen. Die Prioritäten sind: nachhaltigen Frieden fördern, die Zivilbevölkerung schützen, die Effizienz des Sicherheitsrates stärken und die Klimasicherheit angehen. Das übergeordnete Ziel ist, dass die Schweiz als verantwortungsvolles Mitglied der Staatengemeinschaft wahrgenommen wird. Zudem wollen wir das internationale Genf stärken. Wichtig sind aber auch Effekte, die über den Sicherheitsrat hinausgehen.
Was meinen Sie damit?
Weil wir in diesem Gremium sind, werden wir für andere Staaten zu einem interessanten Gesprächspartner. Das führt dazu, dass wir einfacher Zugang erhalten und unser Netzwerk verbessern können, was sich auch positiv auf andere Dossiers auswirken kann. Diese Effekte hören nicht nach zwei Jahren wieder auf.
Die Schweiz möchte die Effizienz des Sicherheitsrates verbessern. Viele Staaten fordern, dass die Vetomächte in Fällen von Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mehr von ihrem Vetorecht Gebrauch machen dürfen. Wird sich das durchsetzen?
124 Staaten haben diese freiwillige Beschränkung des Vetorechts unterzeichnet. Unser Ziel ist, möglichst rasch 129 Staaten dazu zu bringen, also zwei Drittel aller UNO-Mitgliedsstaaten. Das wäre ein wichtiges Zeichen. Ein weiteres Ziel ist, ein Gleichgewicht zwischen offenen und geschlossenen Debatten zu finden.
Ist die aktuelle Situation mit den Spannungen zwischen den Vetomächten eine Chance für Reformen, oder erschwert sie Reformbemühungen?
Es gibt zwei Kategorien von Reformen. Für weitreichende Reformen wie die Abschaffung des Vetos oder neue permanente Mitglieder müsste die UNO-Charta geändert werden. Das ist wenig realistisch. Wir legen den Schwerpunkt auf Reformen, die ohne Änderung der Charta möglich sind. Dazu gehört eine Anpassung des Vetorechts im genannten Sinn. Für solche Reformen ist die Ausgangslage günstig.
«Das Engagement im Sicherheitsrat ist mit dem Neutralitätsstatus vereinbar – das ist die breit abgestützte Überzeugung von Völkerrechtlern und auch des Bundesrats.»
Der russische Angriff auf die Ukraine hat in der Schweiz eine Neutralitätsdebatte ausgelöst. Wird das Schweizer Engagement im Sicherheitsrat diese Debatte befeuern?
Das Engagement im Sicherheitsrat ist mit dem Neutralitätsstatus vereinbar – das ist die breit abgestützte Überzeugung von Völkerrechtlern und auch des Bundesrats. Auch andere neutrale Staaten waren und sind im Sicherheitsrat. Dieser ist nie Konfliktpartei. Er setzt bloss das kollektive Rechtsempfinden der Weltgemeinschaft um.
Die Schweiz entscheidet im Sicherheitsrat am Ende über Krieg und Frieden mit.
Der Sicherheitsrat hat das Mandat, Friedensbemühungen zu unterstützen. Wenn es zu einer militärischen Mission kommt, dann geschieht das in der Regel mit dem Einverständnis des betroffenen Staates – mit dem Ziel, die Lage zu stabilisieren. Dieses Ziel stimmt mit unserer Verfassung vollständig überein.
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