Drohender Felssturz in Brienz«Wir können nichts anderes machen, als auf den Berg zu warten»
Bis zum Freitagabend wird das Bündner Bergdorf vollständig evakuiert. Den Bewohnerinnen und Bewohnern steht eine höchst ungewisse Zukunft bevor.
Seit Jahren rumpelt es immer wieder oberhalb von Brienz, der Hang ist in Bewegung und hat das Dorf gezeichnet: So steht etwa die Kirche von Brienz seit Jahren schief. Seit dem zweiten Dienstag im Mai 2023 ist alles anders, das Dorf muss evakuiert werden. Ein Felsvolumen von zwei Millionen Kubikmetern bewege sich so stark, dass in den kommenden ein bis drei Wochen damit zu rechnen sei, dass es abbreche, meldeten gestern die Behörden.
Wie dramatisch ist die Situation derzeit in Brienz?
«Derzeit rumpelt es täglich bedrohlich im Hanggebiet», sagt Christian Gartmann, Mitglied des Führungsstabs der Gemeinde Albula/Alvra. So stark, dass die Geologen einstimmig den Behörden geraten hätten, jetzt die Phase Orange auszurufen. Und das heisst: Bis zum Freitagabend um 18 Uhr müssen die Einwohnerinnen und Einwohner das Dorf verlassen. (Mehr dazu: Dutzende Gemeinden gefährdet – Wo der Permafrost taut, bröckelt die Schweiz)
Wie erfolgt die Evakuation?
Die Bevölkerung wurde gestern Abend über die Evakuierung orientiert. Es müssten alle das Dorf verlassen, sagt Gartmann: «Bisher haben wir keine Kenntnis davon, dass sich Leute dagegen zur Wehr setzen würden.» Ab Samstag können die Brienzer dann nur noch stundenweise ins Dorf, und zwei Landwirte kümmern sich noch um ihre Kühe in den Ställen. Zudem sind sämtliche Zufahrtsstrassen nach Brienz nur noch für die Einwohnerinnen und Einwohner sowie die Besitzer von Liegenschaften im Dorf geöffnet. An der Orientierungsversammlung betonte Martin Bühler, Regierungsrat Kanton Graubünden, dass die Regierung alles daransetzen werde, die Bevölkerung zu unterstützen. «Die Regierung hat einen weiteren Kredit von 500’000 Franken im Rahmen einer Sofortmassnahme beschlossen, um zu unterstützen.»
Wie werden die Leute konkret alarmiert, wenn es schnell gehen muss?
Auf den Fall einer schnellen Evakuierung hat sich die Gemeinde vorbereitet. Im Notfall würde über Sirenen und SMS alarmiert, heisst es in einer Informationsbroschüre. Die Bevölkerung würde aufgefordert, über eine Evakuierungsroute das Gebiet zu verlassen. Wer Unterstützung benötigt, kann zum Notfalltreffpunkt am Dorfbrunnen gehen. Die Phase Rot werde eingeleitet, sobald das Ereignis vier bis zehn Tage bevorstehe. «Dann gibt es ein totales Betretungsverbot», sagte Pascal Porchet, Leiter des Amts für Militär und Zivilschutz Graubünden, an der Informationsveranstaltung. (Lesen Sie die Reportage aus dem Bergdorf: Dann flüstert der Einheimische: «Madonna!»)
Wie ist die Stimmung im Dorf?
Obwohl sich die Leute seit Ostern darauf vorbereiten konnten, dass der Tag X einmal kommen könnte, sei die derzeitige Situation für die Brienzer sehr belastend, weiss Gartmann: «Viele hatten gehofft, dass es nicht ganz so schlimm werden würde.» Derzeit seien in der Gemeinde 85 Leute angemeldet, aber man gehe davon aus, dass noch zwischen 50 und 60 Leute wirklich dort leben würden. Und viele davon seien Alteingesessene, die sich bisher vom Rumpeln der ständigen Felsstürze nicht hätten verunsichern lassen. So sagte etwa der Bauer Georgin Bonifazi erst kürzlich gegenüber dieser Zeitung, dass, wer hier geboren sei, nicht wegen jedes Lärms aufschrecke.
Gibt es verschiedene Szenarien, wie der Bergsturz erfolgen könnte?
Insgesamt gehen die Geologen (private Büros, Fachleute des Kantons und Spezialisten der ETH Zürich) davon aus, dass es zu einem eher langsamen Abbruch kommt. Mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit stürzen demnach einige Hunderttausend Kubikmeter Felsmaterial ab, das Dorf dürfte dabei weitgehend unbeschädigt bleiben. Zu 30 Prozent würde eine zähe Masse mehrere Meter pro Tag in Richtung Dorf rutschen, das so auch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent rechnen die Geologen mit einem klassischen Bergsturz durch herabstürzende Felsbrocken und einer Gesteinslawine. «Derzeit können wir nichts anders machen, als auf den Berg zu warten», sagt Gartmann. Was sich laut Experten lediglich sagen lässt: Je näher das Ereignis kommt, desto präziser kann der genaue Zeitpunkt bestimmt werden.
Weshalb hat man keinen Schutzdamm gebaut?
Gegen ein Sturzereignis von mehr als 250’000 Kubikmetern kann Brienz laut Experten nicht mit Verbauungen geschützt werden. Das Volumen und die Energien, die auf ein Schutzbauwerk einwirken würden, wären schlicht zu gross. Ein Damm oberhalb des Dorfes müsste unrealistisch hoch gebaut werden, damit er von einem Bergsturz nicht überflossen würde. Grobe Berechnungen haben ergeben, dass ein solcher Damm rund 70 Meter hoch sein müsste. Bei kleineren Volumen bis 250’000 Kubikmeter gehen die Fachleute davon aus, dass die Sturzmassen das Dorf nicht erreichen und daher auch keine Schutzmassnahmen nötig sind.
Seit wann rutscht der Berg oberhalb von Brienz?
«Seit Menschengedenken» rutsche die gesamte Terrasse talwärts, heisst es auf der Website der Gemeinde, vermutlich seit der letzten Eiszeit. Seit 140 Jahren bewegen sich auch die Hänge oberhalb des Dorfes. Doch in den letzten 20 Jahren hat sich die Rutschung stark beschleunigt. Ein Teil des Hanges – er wird «Insel» genannt – bewegt sich um die 25 Meter pro Jahr, für Geologen ein atemberaubendes Tempo. Den letzten grossen Felssturz hat Brienz im Dezember 2008 erlebt. Damals wurde die Verbindungsstrasse Brienz–Lenz auf einem Abschnitt von 40 Metern vollständig zerstört.
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