Bergsturz in Brienz GRSie planen, wegen Millionen Tonnen Gestein das Dorf zu evakuieren
Geologen erwarten dieser Tage einen ersten Felsabbruch oberhalb des Bündner Orts Brienz. Im Sommer könnte ein Bergsturz die Siedlung verschütten. Wie sich das Dorf wappnet.
Es könnte jeden Moment passieren. In der Nacht, früh am Morgen – oder erst in ein paar Tagen. Wann genau, können die Fachleute nicht sagen. Aber sie glauben, dass demnächst Geröll in die Tiefe donnert.
In den kommenden Tagen dürfte es zu einem Felssturz kommen, teilten die Gemeindebehörden des Dorfes Brienz im Bündner Albulatal am Karfreitag mit. Die Bewegung des Gesteins habe sich «markant beschleunigt». Besonders schnell bewege sich der westliche Felskopf am Hang über dem Dorf.
Das klingt bedrohlich. Doch der Gemeindepräsident ist nicht im Krisenmodus. Daniel Albertin verfolgt die Lage am Ostermontag von der Skipiste aus. Der Hang über dem 80-Seelen-Dorf Brienz sei «der wohl am besten überwachte Hang Europas», sagt Albertin.
Der 52-jährige Gemeindepräsident und Landwirt vertraut auf das Georadar, den Lasertachymeter – und die Fachleute. Die Geologen gehen davon aus, dass zunächst nur wenige Tausend Kubikmeter Fels abstürzen werden. Der grösste Teil dürfte in einer Geröllhalde oberhalb des Dorfes liegen bleiben. «Für das Dorf besteht keine Gefahr», sagt Albertin.
Teile des Felssturzes könnten allerdings die Kantonsstrasse erreichen, weshalb diese gesperrt ist. Das bedeutet auch, dass Postautos in Brienz nicht mehr verkehren können. Für die Bevölkerung sei das unangenehm, sagt Albertin. So sei das Dorf aber auch für Schaulustige schlechter erreichbar: «Wir brauchen hier keine Gaffer, die sich in die Gefahrenzone begeben.»
«Der Brienzer ist das Rumpeln gewohnt»
Einzelne Steine rollen in Brienz immer wieder den Hang hinunter – für die Einheimischen ist daran nichts ungewöhnlich. «Der Brienzer ist das Rumpeln gewohnt», sagt Albertin, der selber nicht in Brienz wohnt. Er ist Gemeindepräsident von sieben fusionierten Gemeinden, die zu Albula gehören. Trotzdem machten sich die Menschen zurzeit Sorgen: «Wegen der Gesamtsituation.» Diese hat die Behörden veranlasst, einen für Mai geplanten Informationsanlass auf kommende Woche vorzuziehen. «Das hat eine gewisse Unsicherheit ausgelöst», sagt Albertin.
Der Grund für die vorgezogene Information: Die Fachleute rechnen damit, dass es ab Frühsommer zu einem grossen Bergsturz kommen könnte.
Neu ist das Problem nicht: «Seit Menschengedenken» rutsche die gesamte Terrasse talwärts, heisst es auf der Website der Gemeinde, vermutlich seit der letzten Eiszeit. Seit 140 Jahren bewegen sich auch die Hänge oberhalb des Dorfes.
Doch in den letzten 20 Jahren hat sich die Rutschung stark beschleunigt. Ein Teil des Hanges – er wird «Insel» genannt – bewegt sich um die 25 Meter pro Jahr, für Geologen ein atemberaubendes Tempo. Es ist jener Teil, aus dem aktuell ein Abbruch erwartet wird. Das ist aber erst der Anfang. Der Rest der «Insel» könnte zwischen Frühsommer und Ende des Jahres abstürzen – und das ganze Dorf unter sich begraben. Im schlimmsten Fall gehen mehrere Millionen Kubikmeter Fels nieder.
Genauere Angaben zum Zeitpunkt können die Geologen noch nicht machen. Doch sie scheinen sich sicher zu sein, dass genügend Vorwarnzeit besteht: Die langjährige Erfahrung zeige, dass sich grosse Felsmassen nicht plötzlich, sondern über einen längeren Zeitraum beschleunigten, schreibt die Gemeinde. Damit bleibe genügend Zeit, um das Dorf bei Bedarf über einen Zeitraum von mehreren Tagen zu evakuieren.
Auch eine Umsiedlung steht zur Diskussion
Vergangene Woche hat der Führungsstab beschlossen, die Pläne für die Evakuierung anzupassen. Kommenden Donnerstag wird die Bevölkerung informiert. Geplant ist eine vorübergehende Evakuierung. Doch auch eine Umsiedlung steht zur Diskussion. «So etwas muss langfristig geplant werden», sagt Albertin.
Auf den Fall einer schnellen Evakuierung hat sich die Gemeinde ebenfalls vorbereitet. Im Notfall würde über Sirenen und SMS alarmiert, heisst es in einer Informationsbroschüre. Die Bevölkerung würde aufgefordert, über eine Evakuierungsroute das Gebiet zu verlassen. Wer Unterstützung benötigt, kann zum Notfalltreffpunkt am Dorfbrunnen gehen.
Die Broschüre enthält auch eine Checkliste fürs Notgepäck: Pass, Führerausweis, Bargeld, Bankkarten, Mobiltelefon. «Falls genügend Zeit vorhanden ist, packen Sie ein, was Sie selber mitführen können», lautet die Instruktion, «Fotoalben etc.» Und: «Nehmen Sie Ihre Haustiere mit.»
Den letzten grossen Felssturz hat Brienz im Dezember 2008 erlebt. Damals wurde die Verbindungsstrasse Brienz–Lenz auf einem Abschnitt von 40 Metern vollständig zerstört. In der Folge bauten die Behörden ein Überwachungssystem auf. Vor kurzem wurde auch ein Sondierungsstollen für eine Entwässerung des Untergrundes gebaut. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend. Einen Bergsturz verhindern kann ein Entwässerungsstollen allerdings nicht.
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