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«Wir finanzieren ja keine Kolonien»

«Vertrauen ist gut, aber Kontrollmechanismen sind ebenso wichtig»: Ueli Stürzinger (links) und Hugo Bruggmann auf dem Europaplatz in Bern. Fotos: Fabian Unternährer (13 Photo)
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Sie beide waren zehn Jahre lang dafür verantwortlich, eine Milliarde Franken an Schweizer Steuergeldern in Osteuropa zu investieren. Was haben Sie über die dortigen Staatsapparate gelernt?

Hugo Bruggmann: Sehr viel!Ueli Stürzinger: Viele Regierungen und Verwaltungen in Osteuropa haben vielleicht nicht den besten Ruf, was ihre Korruptionsanfälligkeit betrifft. Sie wissen, dass sie von der EU und von uns unter Beobachtung stehen. Nun erleben wir oft das Gegenteil: Die Beamten wollen nichts mehr entscheiden, was in irgendeiner Form Korruptionsvorwürfe auslösen könnte. Sie wenden konsequent die Regeln an.

Die Beamten verhalten sich jetzt überkorrekt?

Stürzinger: Genau. Unsere Partner wollten sich meistens strikt an die Regeln halten und Ausnahmen vermeiden. Das ist ein paradoxes Resultat der starken Kritik an der Korruption in Osteuropa.Bruggmann: Wir gingen einmal in einem osteuropäischen Land mit einer Delegation zu Mittag essen. Ich merkte, dass es nicht dasselbe Restaurant wie beim Treffen zuvor war, und fragte, warum. Man erklärte mir, dass die zuständige Abteilung für das Mittagessen drei Offerten hatte einholen müssen und dann das billigste Restaurant auswählte. Für ein Mittagessen drei Offerten – das nennt man konsequente Umsetzung der Vorgaben!

Welche Unterschiede haben Sie zwischen den einzelnen Ländern festgestellt?

Bruggmann: Am grössten war der Unterschied zwischen den zehn Staaten, die zuerst dabei waren, und jenen zwei, die später dazukamen: Rumänien und Bulgarien. In diesen Ländern ist es schwierig, genug qualifizierte Leute für die Verwaltung zu rekrutieren. Wer gut ist, geht in den Privatsektor oder wandert in andere EU-Länder aus.

«Es gehen Risse durch Europa. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein.»

Hugo Bruggmann

Sollte die Schweiz noch einmal eine Milliarde ausschütten, müsste man also zuerst einmal die Beamten in diesen Ländern ausbilden?

Bruggmann: Das könnte man im ersten Moment denken. Aber wenn die Leute erst besser ausgebildet sind, gehen sie möglicherweise wieder weg. Das ist ein Teufelskreis. Darum mussten wir als Schweiz in Rumänien und Bulgarien einen viel grösseren Aufwand betreiben.

In Polen und Ungarn kamen während des Programms Nationalisten an die Macht. Haben die Regierungswechsel Ihre Arbeit beeinflusst?

Bruggmann: Auch diese Regierungen haben Interesse, die angefangenen Projekte erfolgreich zu beenden. Sie bezahlen ja jeweils mindestens 15 Prozent selber, es geht also auch um ihr Geld. Was uns allen viel mehr Sorge macht, sind die Entwicklungen in Europa insgesamt: Die sozialen und politischen Ungleichheiten sind in den vergangenen Jahren nicht kleiner geworden, sondern grösser. Es gehen Risse durch Europa. Das kann nicht im Interesse der Schweiz sein.

Die Verringerung der Ungleichheit in Europa ist das grosse Ziel der Kohäsionsmilliarde. Das wurde weder von der EU noch der Schweiz erreicht.

Stürzinger: Die Wirtschaftskrise nach 2008 war ein Einschnitt für ganz Europa, der die Bemühungen um Ausgleich zwischen West und Ost zurückgeworfen hat. Vielleicht haben die von der Schweiz unterstützten Projekte mit dazu beigetragen, dass sich die Lage weniger verschlechtert hat. Bedenken Sie, dass Unterschiede nicht einfach von heute auf morgen verschwinden. In der Schweiz ist der kantonale Finanzausgleich permanent. Wir verlangen ja auch nicht, dass der eine Kanton in fünf Jahren gleich reich sein müsse wie ein anderer Kanton.

Wie verhindern Sie, dass Empfänger im Osten nur noch auf Fördermittel aus dem Westen warten?

Stürzinger: Das ist schwierig. Ich bekam öfter die Antwort: «Wenn ihr geht, suchen wir halt andere internationale Geldgeber.»

Man liest immer wieder, dass Gelder aus EU-Kohäsionsfonds veruntreut werden. Können solche Enthüllungen auch mal die Schweiz betreffen, oder waren unsere Kontrollen viel besser?

Stürzinger: Beides. (lacht)Bruggmann: Wir haben gleich zu Beginn des Erweiterungsbeitrags ein paar gute Entscheide getroffen. Erstens: Wir installierten in den Ländern eigene Büros, mit Leiterinnen oder Leitern aus der Schweiz und mit lokalen Angestellten. Die sind in ständigem Kontakt mit unseren Partnern und bekommen schnell Dinge mit, die nicht funktionieren, wie sie sollen. Das hat sich sehr bewährt. Zweitens beobachten Deza und Seco die Umsetzung der Projekte sehr genau. Das geht von der Auswahl über die Auftragsvergaben bis zur Bewertung nach Abschluss der Arbeiten. Ein grosses Risiko besteht ja immer bei Bauarbeiten. Zum Beispiel, dass bei der Erneuerung der Wasserversorgung Rohre von geringer Qualität geliefert, aber Rohre von hoher Qualität verrechnet werden. Deshalb gehen unsere Prüfer unangemeldet auf Baustellen und machen dort Kontrollen.

Können Sie sicher sein, dass Sie nie betrogen wurden?

Bruggmann: Auch unsere Kontrolle hat Grenzen. Wir können nicht alles lückenlos überprüfen. Aber wenn wir hören, dass gewisse Projektpartner oder Firmen EU-Gelder missbraucht haben, dann schauen unsere Büros sofort, ob wir mit denselben Partnern zusammenarbeiten.

Die Schweiz kontrolliert viel intensiver als die EU?

Bruggmann: Ja, das würde ich schon so sagen.

«Ich hörte oft: ‹Wenn ihr geht, suchen wir halt andere Geldgeber.›»

Ueli Stürzinger

Kann die EU punkto Kontrolle von der Schweiz lernen?

Bruggmann: Die EU könnte so streng wie wir kontrollieren. Aber dafür brauchte sie viel mehr Personal. Ausserdem hat die EU zu ihren Mitgliedsstaaten ein Verhältnis wie in der Schweiz der Bund zu den Kantonen. Wir vertrauen einander. Die Schweiz ist bei der Umsetzung des Erweiterungsbeitrags nach dem Motto verfahren: Vertrauen ist gut – aber Kontrollmechanismen sind ebenso wichtig.Stürzinger: Wir reden jetzt ständig von Projekten, Problemen und Kontrollen. Aber das Programm der Schweiz heisst «Zusammenarbeit mit Partnerländern». Wir finanzieren ja nicht Kolonien. Die Schweiz unterstützt Länder oder Gemeinden bei ihren eigenen Bemühungen, ihre Probleme zu lösen. In so einer Partnerschaft ist die Möglichkeit zur Kontrolle begrenzt. Anderseits kommt das Geld nicht von einer zentralen Stelle in Brüssel, sondern aufgrund eines bilateralen Vertrags. Das schafft eine partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe.

Als Schweizer sind Sie trotzdem immer die Geber und Kontrolleure. Wie vermeiden Sie, dass Sie im Osten oberlehrerhaft oder arrogant auftreten?

Bruggmann: Arroganz kann es ja auf beiden Seiten geben. Wenn ein Minister uns sagt: Wir haben bei der Schweiz so und so viel Geld zugut, ihr müsst jetzt liefern – dann empfinden wir das auch als arrogant. Andererseits sitzen uns in diesen Ländern oft Leute gegenüber, die eine ähnliche Ausbildung wie wir haben, die sich unglaublich stark für die Projekte engagieren – und die für einen Bruchteil unseres Lohns arbeiten. Da müssen wir mit unserer Kritik sehr aufpassen. Ich habe grossen Respekt für Leute, die eben nicht in die Privatwirtschaft oder ins Ausland gehen, sondern sich in der Verwaltung für ihr Land einsetzen. Da gibt es Ärzte und Krankenschwestern, die mit wenigen Mitteln und geringem Lohn in einer schwierigen Umgebung Hervorragendes leisten.

Vor der Kohäsionsmilliarden-Abstimmung vor zehn Jahren war die Aufregung gross, man sprach von «Tributzahlungen» an die EU. Danach wurde es plötzlich sehr still.

Bruggmann: Das hat mich auch erstaunt. Die Medien berichteten wenig über die zehn Jahre hinweg. Wir betreiben eine aufwendig gestaltete Website, die Besuche darauf halten sich in Grenzen. Wir hatten keine negativen Schlagzeilen zum Erweiterungsbeitrag – das ist gut. Auf der anderen Seite hat die Schweiz doch sehr viel Geld investiert. Auch als wir 2016 einen grossen Evaluationsbericht veröffentlichten, auf Deutsch, Englisch und Französisch, gab es keine Reaktion darauf, keine Nachfragen von Journalisten. Das hat mich enttäuscht. Ich nehme an, das Thema wird wieder diskutiert, wenn der Bundesrat über einen allfälligen neuen Beitrag entscheidet.

Es zeichnet sich ab, dass die Schweiz nochmals eine Milliarde in Osteuropa investieren wird. Was muss man in Runde zwei anders machen?

Bruggmann: Der Entscheid ist noch nicht gefallen. Sollte die Schweiz tatsächlich einen neuen Beitrag sprechen, können wir durchaus auf den bisher gemachten guten Erfahrungen aufbauen. Aber wir sollten unsere Anwesenheit vor Ort noch verstärken. Dafür brauchen wir Schweizer Büroleiter während der gesamten Dauer, falls nötig für zehn Jahre. Und wir müssen uns stärker auf einige wenige Themen konzentrieren. Wir könnten auch Schweizer Partner wie NGOs oder Universitäten stärker in die Programme einbinden. Wir sollten die Schweizer Interessen aktiv verfolgen. Aber natürlich darf die Schweiz auch nicht zu forsch auftreten. Das könnte uns als Arroganz ausgelegt werden.Stürzinger: Wir zahlen drei bis fünf Jahre lang, aber wir wollen ja, dass es nachher weiterläuft. Noch mehr auf die Nachhaltigkeit schauen – das wäre wichtig.

Nach zehn Jahren: Was bleibt in Erinnerung?

Bruggmann: In Litauen haben wir 1995 ein Programm gegen Säuglingssterblichkeit begonnen. Heute unterstützen wir über 20 Spitäler mit 45 Millionen Franken. Das hat dazu geführt, dass die Säuglingssterblichkeit in Litauen deutlich zurückging. Wir haben vor Ort Leute, die sich stark einsetzen, und Schweizer Spitäler helfen mit. Deshalb ist es eines meiner Lieblingsprojekte.Stürzinger: Auch kleine Sachen können grosse Freude machen. Zum Beispiel eine Spiel- und Bastelecke in der Krebsabteilung eines Kinderspitals. Die kostete einen fünfstelligen Betrag. Und heute ist es kein Schweizer Projekt mehr – heute kümmert sich ein Club von Eltern um den Betrieb. Da sind wir einen grossen Schritt vorwärtsgekommen.