Hiroshima-Gedenktag in Japan«Wir dürfen es nie mehr zulassen»
Hiroshimas Bürgermeister Kazumi Matsui wirbt für den Atomwaffenverbotsvertrag – und er kritisiert indirekt den nationalistischen Kurs von Japans Premier Shinzo Abe.
Kazumi Matsui weiss, dass sein Amt eine besondere Verantwortung mit sich bringt. Er ist der Bürgermeister von Hiroshima, der Stadt, auf die am 6. August 1945 die erste Atombombe der Welt fiel. Zu seinen Aufgaben gehört es, das Gedenken der vielen Opfer wachzuhalten, aber auch Zeichen für den Frieden zu setzen, gegen Atomwaffen und gegen Strömungen, aus denen verheerende Kriege entstehen können.
Gleichzeitig darf er nicht zu viel sagen über die Kriegsschuld Japans, weil das Land bis heute keine nachhaltige Einstellung dazu gefunden hat. Keine leichte Aufgabe, aber am heutigen Donnerstag bei der Zeremonie zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs der Amerikaner hat Kazumi Matsui sie gut gelöst.
Er erinnerte an die Grippepandemie von 1918, die eine Welt im Krieg traf, und an die nationalistischen Bewegungen, die später zum Zweiten Weltkrieg führten. «Wir dürfen es nie mehr zulassen, dass sich diese schmerzvolle Vergangenheit wiederholt», sagte Kazumi Matsui. «Die Zivilgesellschaft muss selbstsüchtigen Nationalismus ablehnen und sich vereinen gegen alle Bedrohungen.»
Man hat wieder spüren können, dass es unterschiedliche Auffassungen über die Lehren der Vergangenheit gibt.
Es war eine würdige Zeremonie im Friedenspark von Hiroshima. Sie war etwas anders als in den vergangenen Jahren: Wegen des Coronavirus galten besondere Hygienebestimmungen, weniger Gäste waren da. Sie sassen mit mehr Abstand voneinander unter Zeltdächern vor dem Kenotaph für die Opfer der Atombombe. Ausserdem gab es nur 880 Plätze, weniger als ein Zehntel als sonst. Premierminister Shinzo Abe und die anderen Honoratioren trugen Masken, als sie ihre Kränze niederlegten.
Für Hiroshimas Bürgermeister Matsui war die Pandemie der Anlass, daran zu erinnern, dass eine Welt nur so stark ist, wie sie in schwierigen Zeiten zusammenhält. In der Gesundheitskrise klang seine Friedensbotschaft wichtiger denn je. Denn im Streit werden die Nationen das Coronavirus bestimmt nicht unter Kontrolle bringen.
Man hat rund um die Feierlichkeiten in Hiroshima trotzdem wieder spüren können, dass es unterschiedliche Auffassungen über die Lehren der Vergangenheit gibt. Die Gedenkzeremonie zum 6. August ist jedes Jahr ein internationales Ereignis, das einen Anlass bietet, über Geschichte und Aufarbeitung zu sprechen. Trotz der Hygienebeschränkungen waren Vertreter aus 80 Nationen da.
Kritik am japanischen Militarismus
UNO-Generalsekretär António Guterres warnte in einer Videobotschaft vor einem erneuten atomaren Wettrüsten. «Staaten, die Atomwaffen besitzen, modernisieren ihre Arsenale und entwickeln neue und gefährliche Waffen und Trägersysteme», sagte Guterres. «Der einzige Weg, das nukleare Risiko vollständig zu beseitigen, besteht darin, Atomwaffen vollständig zu eliminieren.»
«Die Welt darf nie vergessen, was in Hiroshima und wenige Tage später in Nagasaki geschehen ist – und weshalb», liess Deutschlands Aussenminister Heiko Maas in einer Videobotschaft verlauten. «Verstrahlung, Tod, Krankheit, Elend: All das waren die Folgen eines von Nationalismus und Militarismus angefachten Kriegs, entfesselt von Deutschland und Japan.» Es war eine angemessene Botschaft. Allerdings auch eine, die man von japanischen Regierungsvertretern so nicht mehr hört.
Japans rechtskonservativer Regierungschef Shinzo Abe warb natürlich auch für Frieden in seiner Ansprache. Er sagte, jedes Land müsse «ein Gefühl von Misstrauen abwenden durch gemeinsames Engagement und Dialog». Aber das war wieder eine Forderung an die Welt, für die Japan selbst kaum Voraussetzungen schafft.
Dass der Bürgermeister von Hiroshima vor nationalistischen Tendenzen warnte, war schon fast ein Affront gegen die Abe-Partei LDP, die ihn 2011 vor seiner ersten Wahl zusammen mit der buddhismusnahen Komei-Partei unterstützt hatte. Denn gerade unter Abe hat sich die LDP von einer konservativen Partei zu einem Sammelbecken strammer Nationalisten entwickelt. Sie ist beeinflusst von der rechtsradikalen Organisation Nippon Kaigi, die sich vor 23 Jahren gründete, um das aufzuhalten, was sie einen Linksruck nennt.
Von reiner Verteidigung will Premier Abe auf einen «First Strike»-Ansatz umstellen, damit Japan aktiv gegen Feinde vorgehen kann.
Von der Kriegsschuld des verehrten Kaiserreiches will sie nichts wissen. Ihr Ziel ist der «Aufbau eines stolzen Landes». Sie ist eng verwoben mit dem Verband der Shinto-Schreine, der die exklusive Japan-Religion Shinto pflegt. Es sieht so aus, als seien die Strömungen, die Japans Militarismus einst begünstigten, recht lebendig im Inselstaat dieser Tage.
Shinzo Abe selbst arbeitet seit Jahren daran, die Verfassung zu ändern, mit der die Amerikaner Japan nach dem Zweiten Weltkrieg auf eine reine Verteidigungsarmee festlegten. Zuletzt war die Rede von einer «neuen Richtung» in der Sicherheitspolitik: Von reiner Verteidigung will Abe auf einen «First Strike»-Ansatz umstellen, damit Japan aktiv gegen Feinde vorgehen kann, die sich für Angriffe in Position bringen.
Die Zeitung «Asahi Shimbun» zitiert einen nicht benannten hochrangigen Regierungsbeamten mit den Worten: «Der Premierminister hat von Anfang an geglaubt, dass Japan seine Abschreckung durch Angriffsfähigkeit verstärken muss.»
Nervöses Japan wegen der Nachbarn
Die ganze Welt wirkt nicht besonders ausgeglichen gerade, und als Nachbar der drei Atommächte China, Russland und Nordkorea wirkt Japan grundsätzlich etwas nervös. Am Dienstag hat Verteidigungsminister Taro Kono der chinesischen Regierung gedroht, Japans Selbstverteidigungskräfte würden reagieren, wenn chinesische Schiffe weiterhin so aktiv die Gewässer um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer kreuzten, die China Diaoyu nennt und ganz für sich beansprucht.
Das passt alles nicht zu den Mahnungen, die von der Friedenszeremonie in Hiroshima ausgingen. Kazumi Matsui gibt trotzdem nicht auf, seine Pflicht als Bürgermeister von Hiroshima zu erfüllen. Auch am heutigen Gedenktag forderte er Regierungschef Abe wieder dazu auf, Japan solle endlich den UNO-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen ratifizieren. Dabei ist klar, dass Shinzo Abe das nicht tun wird.
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