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Das Geheimnis des Traditionsturniers
«Es ist schwer, Nein zu sagen, denn alle wollen Geld verdienen»

The crowd of people walk behind security staff members as they enter the All England Lawn Tennis Championships in Wimbledon, London, Tuesday, June 30, 2015. (KEYSTONE/Peter Klaunzer) ***EDITORIAL USE ONLY, NO SALES, NO ARCHIVES ***
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Wimbledon steht für Erdbeeren mit Rahm. Für perfekt manikürte Rasencourts. Für weisse Kleidung der Spielerinnen und Spieler. Fürs Schlangestehen und Übernachten für Tickets. Für die Royal Box, in die man nur mit Einladung kommt. Für eine Atmosphäre wie in einem englischen Garten. Für Tradition.

Wimbledon steht aber auch dafür, was es dort nicht gibt. Keine Musik bei den Seitenwechseln. Keine Nightsessions, die bis in die Morgenstunden dauern. Hier wird der letzte Ball um 23 Uhr gespielt. Keine bunten Kleider auf dem Court. Fast keine Werbung im Centre Court und keine Werbespots, die über die Leinwände flimmern. Keine Freizeitkleidung in der Royal Box.

LONDON, ENGLAND - JULY 04: A spectator enjoys strawberries and cream during day four of The Championships Wimbledon 2024 at All England Lawn Tennis and Croquet Club on July 04, 2024 in London, England. (Photo by Julian Finney/Getty Images)

Für Arnd Zschiesche, Deutschlands führenden Markenexperten, ist das Traditionsturnier genau deshalb beispielhaft für gute Markenführung. «Das Nein ist in der heutigen Zeit, in der fast alles geht, für Marken unheimlich wertvoll. Ich kann in Jogginghosen zur Arbeit gehen, ich kann überall fast alles anziehen. Und da ist Wimbledon, das sagt: Nur weisse Kleider auf dem Court, bitte! Andre Agassi verabscheute diesen Dresscode so sehr, dass er jahrelang nicht in Wimbledon spielte. Irgendwann beugte auch er sich und gewann. In der Markensoziologie heisst es: Jedes Nein stärkt das eigene System.»

Interessant ist der Vergleich mit Roland Garros, das Nightsessions eingeführt und an Amazon Prime verkauft hat. Das die Tickets für die jeweiligen Halbfinals nun einzeln anbietet, um doppelt so viel zu verdienen. Und das inzwischen auf drei Wochen ausgedehnt wurde. Die Woche der Qualifikation wird promotet mit diversen Events, die Leute strömen auf die Anlage.

Wimbledon öffnet seine Tore am ersten Montag des Hauptturniers. Alle warten, bis endlich 10 Uhr ist. «Es ist schwer, Nein zu sagen», sagt Zschiesche. «Denn alle wollen Geld verdienen, jede Lücke für noch mehr Geld nützen. Das macht das Nein umso stärker.»

Marketingprofessor Arnd Zschiesche: «Es ist schwer, Nein zu sagen. Denn alle wollen Geld verdienen.»

Der Marketingprofessor, der unter anderem an der Hochschule Luzern unterrichtet, ist selbst ein passionierter Tennisspieler und war früher ein grosser Fan von Mats Wilander. Er sagt: «Die anderen Grand Slams sind auch Traditionsturniere. Aber Wimbledon ist der Rolls-Royce der Tennismarken. Weil es aus so vielen Ritualen und Spezifika besteht, die nicht zur Diskussion stehen – Marken sind keine demokratischen Systeme.»

Für ihn ist klar: «Die Historie einer Marke muss geschützt werden wie ein Schatz. So, dass man das Gefühl hat: Hier wird nicht nur einfach Marketing gemacht, hier wird Kultur zelebriert. Bei einer starken Marke hat alles eine Geschichte. Wenn ich in Hamburg ein Turnier veranstalte und sage, ihr müsst alle weisse Shirts tragen, schütteln alle den Kopf. Marken werden nur aus ihrer Geschichte stark und beziehen ihre Logik aus sich selbst.»

New York und Melbourne früher auch auf Rasen

Interessant ist ja: Das US Open wurde bis 1974 auch auf Rasen ausgetragen, das Australian Open bis 1987, dann verabschiedeten sich diese beiden Grand Slams von der pflegeaufwendigen Unterlage. Wimbledon hat daran festgehalten und zelebriert seinen Rasen. Der inzwischen verstorbene Eddie Seaward war während 22 Jahren der oberste Rasenflüsterer, inzwischen versieht Neil Stubley diesen Posten. Mit seiner Krawatte und seinem distinguierten Auftreten wirkt er eher wie ein Manager als wie ein Gärtner.

A member of the ground staff trims the grass on court number 1,  at the All England Lawn Tennis Championships in Wimbledon, London, Tuesday, June 21, 2016. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

In der Medien-Cafeteria, von der man über die Courts blickt, erzählt Wimbledons Marketingchef Usama Al-Qassab eine Geschichte. Seine Eltern hatten sich jahrelang für die Ticket-Verlosung eingeschrieben und nie etwas gewonnen. Bis ihnen 1990 zwei Tickets für den Männerfinal zugelost wurden, der am 8. Juli stattfand, an Usamas Geburtstag. Was taten sie? Sie kauften die Billette und schenkten sie ihm und seinem Bruder. «Das tun Eltern», sagt Al-Qassad. «Sie schauen zuerst für ihre Kinder.» An seinem 15. Geburtstag war er dabei, wie Stefan Edberg Boris Becker in fünf Sätzen schlug.

Heute ist Al-Qassab 49 und seit zwei Jahren Wimbledons Marketingchef. Er sagt: «Wir haben hier sehr viel Tradition, was grossartig ist. Aber wir leben in einer Welt, die sich rasant verändert, was die Mediennutzung angeht. Deshalb müssen wir innovativ sein. Die ersten Sportübertragungen am Radio und der erste Livesport am Fernsehen in Grossbritannien kamen aus Wimbledon. Wir waren immer die Ersten, und wir wollen weiter die Ersten sein. Das Fernsehen ist für uns immer noch sehr wichtig, aber die nächste Generation schaut viel mehr auf kleinen Bildschirmen oder auf Social Media.»

Wimbledons Marketingchef Usama Al-Qassad: «Wir müssen Wimbledon in die Welt tragen.»

Man wolle die Jungen abholen, wo sie sich aufhalten, sagt Al-Qassad. Wie auf der ständig wachsenden Gaming-Plattform Roblox. Da würden täglich mehr Messages verschickt als auf Whatsapp. Diesmal findet parallel zum realen Wimbledon ein Turnier an Spielkonsolen statt, der Final wird im All England Club ausgetragen. «650 Millionen Menschen interagieren jedes Jahr mit unserer Marke», rechnet Al-Qassad vor. «Aber nur eine halbe Million kann auf die Anlage kommen. Deshalb müssen wir Wimbledon in die Welt tragen.»

In Brooklyn findet am Finalwochenende zum dritten Mal ein Public Viewing im Park statt, im Hintergrund die Brooklyn Bridge und Manhattan. «Täglich kommen 3000 Leute, essen Erdbeeren, trinken Pimm’s und schauen sich die Finalspiele auf der Grossleinwand an. Und weil es in New York Morgen ist, zeigen wir danach noch legendäre Partien. Wir bringen die Magie von Wimbledon über den Atlantik.»

Der spielfreie mittlere Sonntag wurde geopfert

Aber eben: Zu Hause gilt es, die Magie zu hegen und zu pflegen. Nach 2021 verabschiedete sich Wimbledon von der Tradition des spielfreien mittleren Sonntags. Roger Federer lief damals über die leere Anlage, schickte ein Livevideo in die Welt und wirkte wehmütig. Den «Middle Sunday» habe man aufgeben müssen, um einen reibungslosen Ablauf des Turniers zu garantieren, sagt Al-Qassad. «Aber es gibt vieles, an dem wir immer festhalten werden: an den Rasenplätzen, den weissen Kleidervorschriften und natürlich dem Schlangestehen.»

Die Queue erfreut sich nach einer Baisse nach Corona und dem Federer-Rücktritt wieder grosser Beliebtheit. «Sie erlaubt uns, den Ticketverkauf zu demokratisieren», sagt Al-Qassab. «Wenn du bereit bist, in der Schlange zu stehen, bekommst du ein Billett. Für 30 Pfund kannst du bei uns den ganzen Tag Tennis schauen.»

Tickets für den Centre Court, Court 1 und Court 2 sind teurer, aber auch noch bezahlbar. Wimbledon schröpft die Tennisfans nicht. Es könnte die Preise massiv anheben und wäre immer noch täglich ausverkauft. Die Nachfrage für Tickets ist über zehnmal so hoch wie das Angebot.

Fans wait in The Queue on the first day of the 2024 Wimbledon Championships at The All England Lawn Tennis and Croquet Club in Wimbledon, southwest London, on July 1, 2024. (Photo by HENRY NICHOLLS / AFP) / RESTRICTED TO EDITORIAL USE

«Das Schlangestehen darf Wimbledon nie aufgeben», sagt Marketingmann Zschiesche. «Wieso stehen in Florenz alle für Tickets für die Uffizien an? Nicht weil sie alle Kunstgeschichte studiert haben. Sondern weil sie dort dabei sein wollen, wo alle anderen auch sind. Deshalb ist der Club mit der längsten Schlange immer der attraktivste. Auch ich kann mich diesen sozialen Mechanismen nicht entziehen. Ich stand sogar einmal in New York bei Abercrombie & Fitch an, obschon diese Kleider nicht grossartig sind.»

An den Traditionen festzuhalten und gleichzeitig mit der Zeit zu gehen, sei ein Balanceakt, sagt Zschiesche. «Man darf nicht komplett aus der Zeit gefallen sein. Früher war das Bond-Girl nur fürs Bett da, heute ist sie eine selbstbewusste Frau, die promoviert hat. Das ist die grosse Kunst der Markenführung: Man muss den genetischen Code einer Marke herausarbeiten und immer den Kompass behalten: Woran halte ich fest? Woran nicht?»

Ein Balenciaga-T-Shirt gibt Orientierung

Zschiesche ist überzeugt, dass Marken in der letzten Zeit noch wichtiger geworden sind. «Früher wurde man dadurch definiert, wo man herkam, aus welcher Familie. Oder welcher Religion man angehörig war. Heute fehlen uns in der westlichen Welt viele dieser Orientierungspunkte. Ein Balenciaga-T-Shirt, eine Rolex oder ein Porsche geben einem Orientierung. So traurig das klingt. Es gibt Apple-Jünger. Das sagt ja schon alles. Der Mensch will Bindung. Das ist ein soziales Grundbedürfnis, dem Marken gerne entgegenkommen.»

Das Nein von Wimbledon erfährt diesmal auch der Autor dieses Textes. Als er beim Medienturnier in blauen Shorts auftaucht, wird ihm freundlich klargemacht, dass das ein No-go sei. Obschon das Turnier im Trainingscenter vis-à-vis des All England Club gespielt wird, abseits der Öffentlichkeit. Also kauft der Schweizer Reporter für 55 Pfund weisse Shorts im Wimbledon-Shop.