Leser fragenWieso hört die Politik nicht auf die Wissenschaft?
Die Antwort auf die Frage, wieso man Geld in Bildung und Wissenschaft investiert, wenn die Politik wie bei Corona oder dem Klima ja doch nicht hinhört.
Die Regierungen und natürlich die Universitäten werden nicht müde, die Wichtigkeit von Schulung und Bildung zu betonen, und verlangen entsprechende Unsummen von Geld. Dagegen ist nichts einzuwenden. Was ich aber nicht nachvollziehen kann, ist, dass die Politik auf die Forscher und Fachleute nicht hört, für die sie doch das Geld verlangt und ausgegeben hat. Dazu gehört an erster Stelle die Klimaproblematik, und die Corona-Krise ist das aktuellste Beispiel dieser Unvernunft. Gibt es Erklärungen dafür? L. S.
Lieber Herr S.
Es gibt diese Regierungen, die sich einen Scheissdreck um wissenschaftliche Expertise hinsichtlich was auch immer kümmern. Trump und Bolsonaro sind derzeit die bekanntesten Vertreter dieser Linie. Solche abschreckenden Beispiele erwecken allerdings leicht den Eindruck, die Politik müsse halt nur genau gegenteilig funktionieren, also der Wissenschaft folgen, und alles wäre gut.
Dieser Eindruck täuscht leider; und das hängt weder mit dem bösen Willen «der» Politik noch mit der Unfähigkeit «der» Wissenschaft zusammen. (Wenngleich es auf beiden Seiten reichlich Verbesserungsbedarf gibt.)
Das hängt damit zusammen, dass nicht nur DIE POLITIK einem einheitlichen Interesse folgt, sondern auch DIE WISSENSCHAFT nichts Einheitliches ist. Zur Definition von Politik gehört der Widerstreit von Interessen. Aber bei der Wissenschaft? Sollte die nicht unisono der Wahrheit verpflichtet sein – der die Politik dann folgen könnte?
Mit der Wahrheit in den Wissenschaften ist das so eine Sache. Wahrheiten sind etwas für die Schulbücher: Natriumchlorid ist wasserlöslich. Aktion gleich Reaktion. Das ist wahr, aber nichts, was Forscherinnen heute vom Hocker reissen müsste.
Was derzeit forschende Klimawissenschaftlerinnen liefern, sind zum Beispiel Modelle und statistische Auswertungen von Daten unter angenommenen Wahrscheinlichkeiten, nicht Fakten wie «Die Quelle des Weissen Nils liegt in Ruanda». Dem Weissen Nil kann man zu seiner Quelle folgen, die Geografie gibt dafür eine klare Richtung vor.
Das tun Studien zum Klima nicht in der gleichen Weise. Und zwar nicht, weil die Experten sich ja ständig widersprechen und man keiner Statistik glauben soll, die man nicht selber gefälscht hat (wie das dumpfe antiwissenschaftliche Ressentiment verkündet), sondern weil das Klima ein komplexer Gegenstand ist, der nicht mit einfachen Kausalitätsgesetzen zu modellieren ist.
Denn hier herrscht eine Form der Komplexität, die nicht mit dem «Predict and act»-Prinzip (Sandra D. Mitchell) zu beherrschen ist. Die Politik kann daher nicht einfach durch ihr Handeln den Voraussagen der Wissenschaft Rechnung tragen, sie ist ihrerseits Bestandteil des klimatischen Feldexperiments.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch.
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