Leiden und Erlösung vor dem TVWir waren fast schon im Bett ... und dann das! Das!
Protokoll eines der besten Fussballabende der jüngeren Zeit (was sag ich: ever).
Nach Pogbas Tor zieht der jüngere Bub den Stecker. Buchstäblich.
Fertig. Das Verlängerungskabel zum Monitor ist gekappt, dieser Abend ist vorbei. Er hatte so gejubelt, als er erfahren hatte, dass er den ganzen Match schauen darf. Jetzt jubelt er nicht mehr.
Der ältere Bub liegt da schon in seinem Zimmer, todtraurig. «Warum schiesst Rodriguez unten links? Warum nicht hoch? Warum nicht rechts? Warum schiesst der überhaupt?»
Es fühlt sich so verdammt unfair an, so unverdient. Und das nach der besten ersten Hälfte, die ein Schweizer Nationalteam wohl je gespielt hat! Gegen Paul Pogba, gegen Kylian Mbappé, gegen N'Golo Kanté, gegen den Weltmeister, gegen die nominell wahrscheinlich beste Mannschaft der Welt.
Schon da, kurz nach der Pause, betreiben wir Erwartungsmanagement. Es sind die Franzosen, die kommen schon noch, diese Pace der Schweizer, das wird schwierig, das halten die nicht durch. Wir sagen es, hoffen aber etwas anderes.
Wir sehen etwas anderes.
Schau, wie der Zuber da links abgeht, Wahnsinn, der ist schneller als Pavard, der ist tatsächlich schneller, hee. Heee. HEEEE!!!!
Penalty. So nahe war die Schweiz noch nie. Wenn der reingeht …
Uff. Oje. Es fühlt sich so verdammt unfair an, so unverdient. Wie die Franzosen in den nächsten zehn Minuten die Schweizer brechen, das hat etwas wahnsinnig Kaltes. Dass Pogba nach seinem gloriosen Schuss herumpost, wie Fussballer nach einem gloriosen Schuss halt herumposen – es tut weh (zum Glück hat Griezmann nicht getroffen, keine Posen sind schlimmer). «Ärger, Ärger!», schreibt der Schwager.
Gut Nacht, Buben, nehmt es nicht so schwer. Das gehört dazu. Die Tränen, das unfaire Gefühl. Morgen wird es besser sein. Wenigstens haben sie gut gespielt. Es war nicht wie gegen Italien. Es war auch nicht wie gegen die Ukraine im Achtelfinale der WM 2006, dem langweiligsten Fussballspiel der Weltgeschichte. Es war nicht wie gegen Polen im Achtelfinale 2016 (wo wir wenigstens etwas gehofft hatten) oder gegen Spanien im Achtelfinale der WM 1994 (da war es von Beginn an klar).
Wir schliessen die Türe, wir löschen das Licht. Und hören weit entfernt jemanden schreien. Dann etwas näher, lauter, dringlicher.
So tönt ein Tor. Sie schlafen noch nicht, jetzt schauen wir halt auf dem Natel, noch nie war ich so glücklich über die Zeitverzögerung der Liveübertragung. Hier wird gleich etwas Tolles geschehen, schaut Buben, jetzt dann gleich, jetzt kommt dann die Flanke.
JAA!!!
Die Zeitverzögerung der Liveübertragung ist unser neuer bester Freund. Das Tor von Gavranovic hören wir einmal, zweimal, DREIMAL!
«Fuck. Me.» schreibt jemand auf unserem Fussball-Chat. «Brauche 3 Biere alleine in den letzten 10 Min», ein anderer. Er trinkt jetzt abgelaufenes «Unser Bier», die Not ist gross.
Die Verlängerung läuft wie in Trance, da kann nichts mehr passieren, zweimal Mbappé und trotzdem bleiben alle ruhig (auch Rufe des Klagens würde man vorher hören).
Gary Lineker twittert: «Egal, was im Rest dieses aussergewöhnlichen Spiels geschieht, die Schweiz war sensationell und verdient massiv Anerkennung dafür, wie sie von der ersten bis zur letzten Minute attackiert hat. So muss Fussball gespielt werden.»
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Auf dem Liveticker der «11 Freunde», wo schon jedes Klischee über die Schweiz verbraten wurde (gegen Italien war es schlimm), heisst es jetzt: «Bitte injizieren Sie mir dieses Spiel in die Venen, wenn sich im Herbst bei Nieselregen Augsburg und Fürth bei einem 0:0 neutralisieren.»
Penaltyschiessen. Das fühlt sich anders an als sonst. Lloris hatte seinen schon, Rodriguez wird nicht mehr schiessen. Xhaka gewinnt die Auslosung, wusstet ihr eigentlich, dass in 60 Prozent der Fälle jene Mannschaft gewinnt, die den ersten Penalty schiesst? Angeberwissen, das jetzt niemand hören will.
Jetzt stehen wir alle zusammen vor dem Laptop. Gavranovic, Schär, Akanji, Vargas, Mehmedi. So souverän, so überzeugt. So gut!
Und dann: Mbappé.
Sommer.
Überall schreit es, überall hüpft es, später gibt es in der Basler Steinenvorstadt einen Autocorso (mit Lamborghinis!). Was für ein Spiel. Fussball ist schön. Fussball ist wichtig (manchmal).
Gute Nacht, Buben. Am Freitag geht es weiter.
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