Das Ende der Ära GattikerWie sich die Schweizer Asylpolitik unter seiner Leitung veränderte
Während zehn Jahren war er das Gesicht der Schweizer Flüchtlingspolitik. Nun geht Mario Gattiker in Pension. Was ist in dieser Dekade passiert?
Als Mario Gattiker 2012 Chef des damaligen Bundesamts und späteren Staatssekretariats für Migration (SEM) wurde, begab er sich auf schwieriges Terrain. Seinen Vorgänger hatte Justizministerin Simonetta Sommaruga entlassen, das Bundesamt stand nach einer gescheiterten Reorganisation in der Kritik, in der Asylpolitik gab die SVP den Ton an.
Zehn Jahre später sagt Gattiker vor den Medien: «Ich finde, es gibt kein spannenderes Thema – und auch kein kontroverseres und emotionaleres.» Seine Karriere hatte der Jurist als Rechtsberater für Flüchtlinge bei Hilfswerken begonnen – ein Background, der ihm in diesen Kreisen hohe Glaubwürdigkeit verlieh. Auch wenn Gattiker später die Erwartungen der Hilfswerke nicht immer erfüllen konnte: Dass ihm der Schutz von Flüchtlingen ein echtes Anliegen ist, stellt niemand infrage. Er habe sich mit Herzblut engagiert, mitunter auch für Einzelfälle, heisst es.
Gleichzeitig setzte sich Gattiker – im Sinne eines glaubwürdigen Asylsystems – dafür ein, dass Menschen, die keinen Schutz benötigen, rasch zurückgeschickt werden. Wer den Flüchtlingsbegriff verwässere, schwäche den Flüchtlingsschutz, pflegte er zu sagen. Und: Die Bevölkerung müsse das System mittragen.
«Fehlurteile können Folter oder Tod zur Folge haben.»
Mit einem feinen Gespür für das Machbare nutzte Gattiker seinen Spielraum – nicht als grosser Gestalter, aber als geschickter Umsetzer im Dienste der jeweiligen politischen Führung. Unter Bundesrätin Simonetta Sommaruga kämpfte Gattiker für die Asylreform und die Integrationsagenda. Unter Bundesrätin Karin Keller-Sutter zeigte er, dass ein loyaler Chefbeamter sogar seine Rhetorik der Departementsspitze anpassen kann.
In seiner Bilanz erwähnt Gattiker auch den tragischen Fall zweier Asylsuchender aus Sri Lanka, die 2013 nach der Rückführung gefoltert wurden. Der Vorfall, der hohe Wellen schlug, habe ihm sehr zu schaffen gemacht. Er zeige, welche Verantwortung die Mitarbeitenden trügen: «Fehlurteile können Folter oder Tod zur Folge haben.» Während seiner Amtszeit kam es vor, dass linke Aktivistinnen gegen ihn demonstrierten und ihm unmenschliche Härte vorwarfen – und rechte Politiker gleichzeitig «Asylchaos» riefen. Doch für seine Kompetenz und seine Integrität genoss Mario Gattiker im gesamten politischen Spektrum Respekt.
Die Ära Gattiker war eine asylpolitisch turbulente Zeit. Was die Schweiz besonders beschäftigte:
Der Syrienkrieg
Ab 2012 – dem Jahr von Gattikers Amtsantritt – flohen immer mehr Menschen vor dem Krieg in Syrien. Die Schweiz nahm 2013 erstmals seit den 1990er-Jahren ganze Flüchtlingsgruppen auf, sogenannte Kontingentflüchtlinge. Später beschloss der Bundesrat, die Praxis zu verstetigen und jährlich 800 bis 1000 besonders verletzliche Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen. Sommaruga fand auch andere Wege, um zu helfen: Sie beschloss vorübergehende Visa-Erleichterungen für Angehörige von Syrerinnen und Syrern in der Schweiz – und ermöglichte so über 4000 Personen die Einreise.
Die Flüchtlingskrise von 2015/2016
Im Jahr 2015 machten sich Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten auf den Weg nach Europa – darunter viele Iraker und Syrer, die zunächst in Jordanien, im Libanon und in der Türkei Schutz gefunden hatten. Auch in der Schweiz stiegen die Asylgesuchszahlen – bis zum Jahresende auf fast 40’000. Gattiker nahm gemeinsam mit den Kantonen eine Notfallplanung an die Hand. Die Schweiz beteiligte sich auch an einem europäischen Umverteilungsprogramm: Sie nahm 1500 Personen aus Griechenland und Italien auf.
Die grosse Asylreform
2016 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung mit 67 Prozent Ja-Stimmen die grosse Asylreform an, deren Hauptziel eine Beschleunigung der Verfahren war. Die Beschwerdefristen wurden verkürzt, im Gegenzug erhielten Asylsuchende eine kostenlose Rechtsvertretung. Sommaruga hatte die Reform noch vor Gattikers Amtsantritt aufgegleist. Bei der Umsetzung spielte der gut vernetzte SEM-Chef jedoch eine wichtige Rolle. Die Reform gelang auch deshalb, weil frühzeitig alle Akteure eingebunden wurden – Kantone, Städte, Hilfswerke. Schon vor der Asylreform wurden für bestimmte Länder Schnellverfahren eingeführt. Dadurch ging die Zahl der Gesuche mit geringen Erfolgsaussichten zurück. Nicht gelungen ist Gattiker dagegen die Schaffung eines neuen Status für vorläufig Aufgenommene. Dafür fand sich keine politische Mehrheit.
Die kritisierten Asylzentren
Bei der Suche nach Standorten für Asylzentren schlug Gattiker Widerstand entgegen: aufgeheizte Stimmung in Mehrzweckhallen. Später sorgten gewaltbereite Asylsuchende aus Maghreb-Staaten für Schlagzeilen über Asylzentren. In den letzten Monaten sah sich Gattiker mit Vorwürfen konfrontiert, weil Mitarbeitende privater Sicherheitsfirmen unverhältnismässigen Zwang gegen Asylsuchende anwandten. Gattiker betont, dass es sich nicht um ein systematisches Problem handle. Kritiker sehen in den Asylzentren – auch bei der Unterbringung – jedoch noch erheblichen Verbesserungsbedarf.
Der Vollzug von Wegweisungen
Die Rückweisung abgewiesener Asylsuchender: ein politischer Dauerbrenner. Gattiker hebt hervor, dass die Schweiz die Dublin-Regeln konsequent anwendet – und auch darüber hinaus bei der Rückkehr eine gute Bilanz aufweist. In der Tat zeigt ein Vergleich der Vollzugsquoten, dass die Schweiz in der Rückkehr weit effizienter ist als die meisten europäischen Staaten. Mit dem Instrument der Rückkehrhilfe gelang es, die freiwillige Rückkehr abgewiesener Asylsuchender zu fördern.
Die Herkunftsstaaten
Migrationspolitik müsse in den Herkunftsregionen ansetzen, sagt Gattiker. Die Schweiz betreibe deshalb eine sehr aktive Migrationsaussenpolitik. Das SEM setzt auf Kooperation: Migrationspartnerschaften und Migrationsabkommen, die auch im Interesse der Herkunftsstaaten sind. Neu wurde ausserdem die Entwicklungszusammenarbeit mit Migrationspolitik verknüpft, wie es das Parlament verlangt hatte. Die Behörden arbeiten eng zusammen.
Die Eritrea-Debatten
Immer wieder Eritrea: Parlamentarische Vorstösse zu einem der wichtigsten Herkunftsländer haben das Parlament während der Ära Gattiker ganze Nachmittage lang beschäftigt. Die Schweiz sei zu grosszügig, lautete der Befund im bürgerlichen Lager. Im Jahr 2016 verschärfte das SEM die Praxis. Es war zum Schluss gekommen, dass Menschen, die zwar illegal aus Eritrea ausgereist sind, sich aber nicht dem Nationaldienst entzogen haben, keine Verfolgung droht. Zwangsweise zurückschaffen kann die Schweiz Eritreer allerdings nicht. Kehren sie nicht freiwillig zurück, landen sie in der Nothilfe.
Die Machtübernahme der Taliban
Als die Taliban im Sommer 2021 in Afghanistan die Macht übernahmen, evakuierte die Schweiz lokale Mitarbeitende und deren Familien. Visa-Erleichterungen oder eine Aufnahme von Flüchtlingsgruppen aus Nachbarländern – wie während des Syrienkriegs – kamen für Bundesrätin Karin Keller-Sutter und Gattiker aber nicht infrage. Afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan lebten zwar teilweise unter prekären Bedingungen, seien aber nicht an Leib und Leben bedroht, sagte Gattiker in einem Interview. Er warnte vor «falschen Signalen»: Wenn Europa solche aussende, könnten sich viele Menschen auf den Weg machen.
Die Bilanz
Eine glaubwürdige Asylpolitik spiegle sich in der Schutzquote, sagt Gattiker. Heute erhielten 60 Prozent der Asylsuchenden Asyl oder eine vorläufige Aufnahme. Bei seinem Amtsantritt seien es 19 Prozent gewesen. Heute stellten also vor allem Menschen ein Asylgesuch, die auf Schutz angewiesen seien. In den vergangenen zehn Jahren hat das SEM 114’000-mal Asyl oder eine vorläufige Aufnahme gewährt, fast 6000 Resettlement-Flüchtlinge aufgenommen und 8500 humanitäre Visa ausgestellt. Herausforderungen sieht Gattiker vor allem auf europäischer Ebene: Gerade in den Staaten an der Schengen-Aussengrenze brauche es rasche und dennoch korrekte Asylverfahren. Hier hätte die Schweiz aus Gattikers Sicht Expertise anzubieten.
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