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Seit einem Jahr ungeschlagen
Wie junge Ukrainerinnen den Zürcher Fussball aufmischen

Siegespose für den Fotografen: Valeriia Hresa, Ruslana Alieva und Anna Nikolaenko (Bildmitte, von links) nach dem 5:2 bei Oerlikon/Polizei. 
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Das ist die Geschichte eines Fussballteams, das seit einem Jahr nie verloren hat. 

Das ist die Geschichte ukrainischer Fussballerinnen, die in Zürich für den SC Wipkingen spielen. 

Das ist die Geschichte eines Teams, das Ende Saison aufsteigt und trotzdem nicht mehr weitermacht. 

Und alles kam so: 

Es ist Ende Februar 2022, als die Ukraine überfallen wird und sich Heidi Beha in Zürich grosse Sorgen macht. Sie schreibt eine Textnachricht in die Ukraine, fragt nach, wie die Situation sei, und erfährt, dass ihre Bekannte Anna bereits auf der Flucht ist. Gerade steuert Anna zusammen mit einer Freundin ihr Auto mit ukrainischem Kennzeichen durch Russland. In Lettland wollen die beiden über die Grenze in den Westen. Beha meldet ihnen: Kommt nach Zürich, ihr könnt bei mir wohnen. 

Beha ist Entwicklungsleiterin Europa bei der Fifa. Als sie 2012 beruflich nach Russland und in die Ukraine reist, um ein Völker verbindendes Fussballturnier zu organisieren, lernt sie Anna kennen, Nachwuchstrainerin Anna Pokus. Die beiden haben danach immer wieder Kontakt. Aber nie zuvor ist er so eng wie ab dem 13. März 2022, als Pokus und ihre ukrainische Freundin in Zürich ankommen.

Einen Tag später feiert Pokus ihren 34. Geburtstag, die grossen Geschenke aber möchte sie anderen machen. Sie will ihre Spielerinnen in die Schweiz holen. So kommen bis zum Sommer vor einem Jahr über 20 ukrainische Fussballerinnen zwischen 14 und 20 Jahren in Zürich an, vereinzelt reisen auch Angehörige mit. 

Als Pascal Zuberbühler im Training auftauchte

Beha sagt: «Wir waren überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Umfeld.» Bei ihr wohnen zwischenzeitlich drei Personen. Freunde und Arbeitskolleginnen bei der Fifa nehmen ebenfalls Flüchtlinge auf. Und der Weltfussballverband engagiert sich neben seiner 500’000-Dollar-Zahlung an die UNO-Flüchtlingshilfe materiell und finanziell. Er stellt einige seiner Mitarbeiterwohnungen zur Verfügung, gibt seinen Kunstrasen für Trainings frei, rüstet die Spielerinnen mit Schuhen und Kleidern aus und lädt sie am Mittag zum Essen in die Kantine ein. Ein paar Mal schaut auch der frühere Nationalkeeper Pascal Zuberbühler vorbei und macht Goalietrainings. 

Mittlerweile wohnen fast alle Ukrainerinnen zusammen in Winterthur, die Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Winterthur hat ihnen drei Wohnungen zugeteilt, die Schlafzimmer sind doppelt belegt. Am Tag setzen die Spielerinnen ihre schulische oder universitäre Ausbildung in der Ukraine im Videounterricht fort und besuchen Deutschkurse, abends trainieren sie jetzt in Winterthur, die fussballerische Heimat bleibt gleichwohl Zürich. 

Pokus lernt nach einem Testspiel Rahel Jent und Aykut Ugras kennen, damals Präsidentin und Sportchef des SC Wipkingen. Kurz darauf hat der Stadtzürcher Verein einen zusätzlichen Satz Trikots, Trainingskleidung sowie Trainingsmaterial bestellt und ein weiteres Frauenteam für den Start in der untersten Schweizer Liga angemeldet. Für den Club sei sofort klar gewesen, dass er die Fussballerinnen aufnehmen werde, sagt Jent. «Wir wollten den Frauen die Teilnahme an der Meisterschaft ermöglichen. Das passt zu uns. Wir sind ein integrativer Quartierverein.»

16 Siege und 88:8 Tore

Die Wipkinger sind stolz auf ihre neuen Mitglieder, obwohl das Team auswärts trainiert und die Kommunikation schwierig sein kann. Viele Spielerinnen sprechen kaum Englisch oder Deutsch – oder sind zu scheu für eine Konversation. Doch wenn ein Vereinsanlass ansteht, sorgt Pokus dafür, dass ihr Team dabei ist. Sie engagiert sich beim SC Wipkingen als Trainerin auch noch in zwei weiteren Teams. Der Club wiederum verlangt keine Jahresbeiträge, beim Sponsorenlauf sammeln einige Mitglieder speziell für die Ukrainerinnen. Und sportlich ist es eine Erfolgsgeschichte. 

In der ersten Saisonhälfte gewinnt das Team alle acht Meisterschaftspartien mit einem Torverhältnis von total 48:2. In der Aufstiegsrunde in diesem Frühjahr geht es ähnlich weiter: 9 Spiele, 8 Siege, 1 Unentschieden, 38:6 Tore. Der Aufstieg in die 3. Liga steht schon ein paar Runden vor Schluss fest. 

Fast immer etwas schneller am Ball als die Konkurrenz: Polina Pozdnikova (rechts) zieht beim Auswärtsmatch gegen Oerlikon/Polizei an ihrer Gegenspielerin vorbei. 

Das klingt alles nach einem schönen Kapitel Fussballgeschichte. Aber kaum hat die Erzählung angefangen, ist sie auch schon zu Ende. Wipkingens Co-Vizepräsident Sven Guggenheim jedenfalls sagt: «Ich habe eine leise Furcht.»

Was Guggenheim meint: dass es dieses ukrainisch geprägte Frauenteam beim SC Wipkingen bald nicht mehr geben wird. Einige Spielerinnen haben Heimweh und wollen trotz Krieg zurück in die Ukraine. Zwei Spielerinnen wechseln in die Winterthurer Peripherie zum FC Wiesendangen in die 2. Liga. Zwei möchten in ein grösseres europäisches Fussballland, um vielleicht dort Karriere zu machen. Und die verbleibenden neun Spielerinnen ziehen mit ihrer Trainerin weiter zum FC Kloten, wo Pokus das 2.-Liga-Team übernimmt. 

14 Jahre lang war Anna Pokus in der Ukraine Profitrainerin im Nachwuchsbereich. Jetzt übernimmt sie die 2.-Liga-Frauen des FC Kloten. 

Logistische und sportliche Gründe sprechen aus ihrer Sicht für den Wechsel. Das fussballerische Niveau ist besser, die Anfahrt aus Winterthur kürzer, das Zugticket wird vielleicht sogar vom neuen Verein bezahlt und nicht das Sozialhilfebudget der Spielerinnen belasten. Gleichwohl sagt Pokus: «Für mein Herz ist es nicht gut, dass unsere gemeinsame Zeit in Wipkingen zu Ende geht, für uns ist das ein Zuhause geworden.» Ganz loslassen will sie aber nicht. Als Trainerin für die anderen Teams steht sie dem SC Wipkingen weiterhin zur Verfügung.