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Vulkanausbruch in den USA
Wie eine geschüttelte Colaflasche

Vor 40 Jahren, am 18. Mai 1980, brach der 2950 Meter hohe Mount St. Helens im US-Bundesstaat Washington aus. Dabei verlor er rund 400 Meter an Höhe.
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Als der Berg explodierte, stand der Geologe Dave Johnston auf seinem Beobachtungsposten, auf einem Rücken knapp zehn Kilometer vom Gipfel entfernt. Er war nur eingesprungen, noch am selben Tag sollte ihn ein Kollege ablösen. «Vancouver, Vancouver! Das ist es!», rief er seinen Kollegen in der nahen Stadt im Bundesstaat Washington per Funk zu.

Dann rollte die Wolke aus Asche, Staub und Gestein auf ihn zu – und die Verbindung brach ab. Es war ein klarer Frühlingsmorgen am Sonntag, dem 18. Mai 1980, und eine der spektakulärsten Naturkatastrophen des 20. Jahrhunderts nahm ihren Lauf. Am Ende sollte sie 57 Menschen das Leben kosten – man kann diese Zahl noch als grosses Glück bezeichnen.

Aus geologischer Sicht aber war der Ausbruch die unvermeidbare Folge eines langen Spannungsaufbaus, ein gewöhnlicher und sicher nicht der grösste Zwischenschritt in einem seit Urzeiten andauernden Prozess. Er begann nicht an diesem Sonntag im Mai 1980. Und auch nicht zwei Monate zuvor, als der Vulkan mit kleineren Erdbeben und Eruptionen nach langer Zeit aus dem Schlaf erwachte.

Noch nicht einmal irgendwann in den vergangenen 40’000 Jahren, als der Mount St. Helens entstand. Auf geologischen Zeitskalen ist diese Zeitspanne nur ein Wimpernschlag. Wenn es überhaupt einen Anfang gab, dann war es im Jura, vor rund 150 Millionen Jahren, als der Superkontinent Pangaea auseinanderbrach und sich schliesslich Nordamerika von Europa trennte.

Trügerische Ruhe: Der Berg schien lange Zeit friedlich zu schlafen, doch im Inneren braute sich derweil etwas zusammen.

In der Folge dieses kolossalen Gerempels in der Erdhülle wurde die Farallon-Platte unter die nordamerikanische Platte geschoben. Ein Überbleibsel der Farallon-Platte ist die Juan-de-Fuca-Platte, die noch heute vor der Küste des US-Bundesstaats Washington dabei ist, unter den amerikanischen Kontinent abzutauchen, mit bis zu vier Zentimetern pro Jahr. So wurde einst auch das vulkanische Kaskadengebirge emporgeschoben, zu dem Mount St. Helens gehört.

Der Druck, der sich dort unter dem Ozean aufbaut, ist gewaltig. Geologen erwarten früher oder später, dass «The Big One», ein Erdbeben, gefolgt von einem Tsunami, riesige Gebiete im Nordwesten der USA verwüsten und Abertausende Opfer fordern könnte.

Aber auch die Vulkane auf Subduktionszonen sind tückisch. Das Magma enthält viel Kieselsäure, Wasser und gelöste Gase. Wenn dieses Gemisch unter hohem Druck an die Oberfläche steigt, gleicht das System einer kräftig geschüttelten Colaflasche. Solange der Deckel draufbleibt, sieht von aussen alles in Ordnung aus. Aber wehe, jemand schraubt die Flasche auf.

«Damals wurden Brücken geschlagen, zwischen den USA und Russland, aber auch zwischen Geowissenschaftlern, Ingenieuren und Sozialwissenschaftlern.»

Thomas Walter vom Geoforschungszentrum Potsdam

Ungefähr das war im Frühling 1980 unter dem Mount St. Helens geschehen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Vulkan geschwiegen. Am 16. März 1980 begann eine Serie kleinerer Erdbeben, die zeigten: Der Berg erwacht, das Magma darunter beginnt sich zu regen.

Am 27. März 1980 brach der Vulkan erstmals nach mehr als 120 Jahren aus: Eine Dampfexplosion sprengte einen breiten Krater in den bis dahin perfekt konischen, eisbedeckten Gipfel. Asche färbte den Schnee grau. Und damit begann das Warten. Die Geologen wussten, dass etwas im Gang war; aber wann der grosse Ausbruch kommen würde, das wussten sie nicht.

Erst nach dem Ausbruch zeigte sich die Energie, die sich im Berg aufgestaut hatte: Im Berg klafft eine riesige Wunde, für immer abgesprengt.

Fatalerweise entschieden sich die Verantwortlichen dagegen, eine grossräumige Sperrzone einzurichten. Unter anderem, weil man ungern das private Land des Forstwirtschaftskonzerns Weyerhaeuser sperren wollte. Schliesslich gab es einen Kompromiss, der grosse Gebiete rund um den Vulkan zumindest nur eingeschränkt betretbar gemacht hätte – der aber das Büro der damaligen Gouverneurin Dixy Lee Ray erst am Samstag, dem 17. Mai, erreichte. Da war sie bei einer Parade zum Rhododendron-Tag. Als Ray zurückkam, hatte der Berg bereits dafür gesorgt, dass sich alle Diskussionen über Sperrzonen erübrigten.

Vielleicht war David Johnston auf seinem Beobachtungsposten gegenüber dem Berg der Erste, der sah, was passierte. Seine Kollegen und er hatten angenommen, der Vulkan würde noch eine letzte Warnung abgeben, bevor er wirklich Ernst machte. Stärkere Erdbeben, erhöhte Schwefelgasaustritte, so etwas. Aber zuletzt war es vergleichsweise ruhig gewesen, und die letzten Gasmessungen hatten nichts Besonderes ergeben. Dass man an so wasserhaltigen Vulkanen wie Mount St. Helens nicht unbedingt mit Schwefelgasen rechnen muss, weil sie sich im Innern des Vulkans lösen können, fand man erst viel später heraus.

Dave Johnston und 56 weitere Menschen hatten das Pech, zu nah am Vulkan zu sein.

Und so blieb jede Warnung aus. Stattdessen rutschte nach einem letzten, gewaltigen Erdbeben der Magnitude 5,1 fast der gesamte Nordhang ab, etwa drei Kubikkilometer Fels, Erde und Eis glitten ins Tal. Es war der grösste terrestrische Erdrutsch, der je beobachtet wurde; eine teils Dutzende Meter dicke Schicht aus Stein und Erde formte die Landschaft an der Nordseite des Vulkans neu. Viel schlimmer aber war das, was der Erdrutsch im Innern des Berges anrichtete.

Bis zum 18. Mai 1980 betrachtete man ein so grosses seitliches Abrutschen als exotisches Szenario – nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Nach dem Ereignis änderte sich das radikal. «Erst danach begab man sich auf eine weltweite Spurensuche und hat festgestellt, dass etwa drei Viertel aller hohen Vulkane Spuren von solchen Rutschungen zeigen», sagt Thomas Walter vom Geoforschungszentrum Potsdam. In vieler Hinsicht war der Ausbruch des Mount St. Helens ein Wendepunkt in der Forschung.

57 Menschen starben, viele erstickten an Asche und Staub, manche verbrannten in der Hitze oder ertranken in den Massen aus Geröll und Schlamm.

Mitten im Kalten Krieg kamen US-Wissenschaftler mit russischen Kollegen ins Gespräch, Daten wurden geteilt. «Damals wurden Brücken geschlagen, zwischen den USA und Russland, aber auch zwischen Geowissenschaftlern, Ingenieuren und Sozialwissenschaftlern», sagt Walter. «Die Nachbearbeitung des Ereignisses war eine Erfolgsgeschichte, kaum ein Vulkanausbruch wurde so präzise dokumentiert und analysiert.»

Und so wurde in den Jahren nach der Katastrophe immer klarer, was an jenem 18. Mai genau passierte. Der Druck im Vulkan war bis dahin immens gewesen. Aber weil die Bergwände gegenhielten, blieb das Magma trotz vieler eingeschlossener Gasbläschen eine zähflüssige Masse. Als die Nordwand schliesslich wegglitt wie der Deckel von der Colaflasche, raste eine Welle des Druckabfalls quer durch den Berg, bis zur Südwand und wieder zurück.

Wo sie vorbeikam, dehnten sich die Gasblasen im Magma aus. Wegen seiner Zähflüssigkeit konnte es jedoch kaum nachgeben und zersplitterte wie Glas. Das Ergebnis war ein Gemisch aus Gas und Magmasplittern, sogenannten Pyroklasten, das sich rasend schnell weiter ausdehnte und für das es nur einen Ausweg gab – das klaffende Loch in der Nordwand.

Von dort trat mit einer gigantischen Druckwelle ein sogenannter pyroklastischer Strom aus, eine heisse Wolke aus Asche, Lavasplittern, Staub und Vulkangestein, die mit fast 500 Kilometern pro Stunde über die Landschaft rollte und alles in ihrem Weg niederwalzte. Insgesamt wurde eine Energie von 24 Megatonnen TNT-Äquivalenten freigesetzt – das 1600-Fache der Hiroshima-Atombombe. Das verwüstete Gebiet erstreckte sich vom alten Berggipfel 20 Kilometer nordwärts; noch in 400 Kilometer Entfernung verdunkelte die Asche mancherorts den Himmel.

Dave Johnston und 56 andere Menschen hatten das Pech, zu nah am Vulkan zu sein. Nur drei von ihnen befanden sich in der Sperrzone. Manche wurden von der Schlammlawine begraben, von umfallenden Bäumen getroffen oder starben an der bis zu 360 Grad heissen Wolke. Die meisten jedoch erstickten wie einst die Bewohner von Pompeji an Staub und Asche. Einige Opfer wurden nie gefunden.

Manche fand man tot in ihren Autos, wie eine Rentnerin aus Kalifornien, deren Handtasche voller Kokain und Bargeldbündel war, wie Steve Olson beschreibt. Wäre das Gleiche an einem Wochentag passiert, hätte man wohl noch Hunderte Holzfäller zu den Opfern zählen müssen.

Die Auswirkungen auf die Natur am Fuss des Berges waren enorm, Bäume knickten unter den Wassermassen und dem Geröll ab wie Streichhölzer.

Andere jedoch wurden spektakulär gerettet. Das Ehepaar Mike und Lu Moore war mit seinen vier Jahre und drei Monate alten Töchtern auf einem Campingausflug am Green River, etwa 20 Kilometer vom Mount St. Helens entfernt, als der Vulkan ausbrach. Als die Asche den Himmel nachtschwarz färbte und das Vulkangewitter Blitze und Donner losjagte, suchten die Moores Schutz in einer Jagdhütte und atmeten durch nasse Socken, um ihre Lungen zu schützen.

Als das Schlimmste vorbei war, machten sie sich auf den mühsamen Weg durch den verwüsteten Wald voller umgestürzter Bäume. Erst am nächsten Tag wurden sie von einem Helikopter gesichtet. «Lass das verdammte Ding zurück», brüllte der Pilot, als er Lus grossen Rucksack sah; er fürchtete, seine Maschine damit zu überladen. «Da ist ein Baby drin!», brüllte Lu zurück. Alle vier wurden wohlbehalten gerettet.

«Ehrlich gesagt: Ich hätte mich dort auch ziemlich sicher gefühlt.»

Christoph Kern vom Volcano Science Center der US Geological Survey

Nach der Katastrophe im Jahr 1980 verklagten die Angehörigen einiger Opfer den Bundesstaat Washington und den Weyerhaeuser-Konzern, weil sie die gefährdeten Gebiete nicht geräumt hatten. Ein Gericht sprach den Staat jedoch von jeder Verantwortung frei, Gouverneurin Ray hätte auf Basis der verfügbaren Informationen eine legitime Entscheidung getroffen. Was Weyerhaeusers Schuld anging, konnten sich die Geschworenen nicht einigen; schliesslich gab es einen Vergleich. So wie Olson die Ereignisse schildert, erscheint das Handeln von Behörden und Konzern im Nachhinein jedoch als grob fahrlässig.

Diese Sicht aber ist unter Experten umstritten. «Wenn wir heute in einer ähnlichen Situation wären, gäbe es wahrscheinlich eine grössere Sperrzone», sagt Christoph Kern. «Aber im Nachhinein, 40 Jahre später, sagt sich das leicht.» Er stand schon oft an der Stelle, an der David Johnston starb. «Ehrlich gesagt: Ich hätte mich dort auch ziemlich sicher gefühlt.»