Sehbehinderungen im AlterWie ein Senior seine digitale Assistentin lieben lernte
Weil Ernst Horat plötzlich fast nichts mehr sah, musste er sein Leben neu organisieren. Geholfen haben dem 81-Jährigen dabei Computer, Smartphone und Co.
Klar, auch Ernst Horat benützt Computer und Smartphone schon länger. Dennoch stand er der Digitalisierung kritisch gegenüber. Dass heute viele mit Stöpseln in den Ohren und Blick auf den Bildschirm unterwegs sind, veranlasste ihn zum Stirnrunzeln. Was für eine grosse Bedeutung diese Geräte dereinst auch für ihn haben würden, konnte er sich nicht vorstellen.
Mittlerweile ist das Smartphone für den 81-jährigen Horat zu einem wichtigen Hilfsmittel geworden. So wichtig, dass er sogar einen Ratgeber geschrieben hat, in dem er die technischen Errungenschaften lobt und sie auch anderen Sehbehinderten näherbringen möchte. Vom Smartphone als Tausendsassa ist da etwa die Rede oder von einem Schlüssel zu verloren geglaubten Welten. «Früher habe ich Siri mehr als Spielerei und Zeitverschwendung angeschaut», sagt der Rentner aus dem zürcherischen Richterswil. «Unterdessen ist die digitale Assistentin für mich zur unentbehrlichen Begleiterin im Alltag geworden.» Siri macht für ihn Kalendereinträge, verwaltet seine Kontakte und tätigt Telefonanrufe.
Die Wandlung vom Skeptiker zum regelrechten Fan der Digitalisierung hat mit einer einschneidenden Wende zu tun: Ernst Horats Sehvermögen hat in kurzer Zeit stark abgenommen. Schon länger litt er beidseitig am Grünen Star – einem erhöhten Augeninnendruck, der den Sehnerv allmählich schädigt. Dazu kamen vor vier Jahren zwei Blutgerinnsel im linken Auge, die feine Arterien verstopften. «Über Nacht hatte sich meine Sehkraft nochmals massiv verschlechtert», erzählt er. «Als ich am Morgen erwachte, sah ich viel weniger gut als noch am Vorabend.»
Siri wird zur treuen Begleiterin
Bis vor Kurzem konnte er sich in der Öffentlichkeit noch knapp mit den Augen orientieren. Für Aussenstehende war seine Einschränkung kaum ersichtlich – ausser, dass er Personen auf der Strasse manchmal nicht erkannte. Unterdessen ist die Verschlechterung weiter fortgeschritten. Die digitalen Anwendungen ermöglichen es dem mittlerweile 81-Jährigen aber, dass er viele Aktivitäten trotzdem weiterpflegen und eine gewisse Selbstständigkeit erhalten kann.
Zum Beispiel lässt sich der frühere Journalist und PR-Fachmann Zeitungen und Bücher heute von der Computerstimme vorlesen. Ist er an unbekannten Orten unterwegs, lässt er sich häufig von seiner neuen Freundin Siri orten und mithilfe des GPS führen. Sogar kleine Ausflüge und Spaziergänge kann der passionierte Wanderer so noch selbstständig unternehmen.
In seinem Ratgeber nimmt Ernst Horat die Leserschaft sozusagen bei der Hand auf der Reise in die digitale Welt und erzählt von seinen eigenen Erlebnissen. Er schildert seine Vorbehalte gegenüber dem weissen Stock und wie er zwischen Stolz und Vernunft hin- und hergerissen war. Erst als er sich am Zürcher Hauptbahnhof einmal gründlich verirrt hatte, konnte er sich schliesslich dazu überwinden, das Erkennungszeichen bei sich zu tragen. «Es wurde mir bewusst, dass ich in brenzligen Situationen eher mit spontaner Unterstützung rechnen kann», schreibt Horat. Der Stock signalisiere der Umgebung, dass sie es nicht einfach mit einem verwirrten älteren Herrn zu tun habe. Heute hält er das Hilfsmittel in der Öffentlichkeit stets in der Hand, um Zusammenstösse mit anderen zu vermeiden und Hindernisse zu ertasten.
Sehbehinderungen nehmen zu
Sehbehinderung trifft viele Menschen. Und weil die Beeinträchtigung mit zunehmendem Alter deutlich häufiger auftritt, nimmt die Anzahl Betroffener stetig zu. In der Schweiz geht man davon aus, dass rund 377’000 Menschen auch mit einer Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr in der Lage sind, eine normale Zeitung zu lesen. Davon gelten etwa 50’000 Personen als blind. «Das heisst, dass sie sich praktisch nicht mehr mit den Augen orientieren können», erklärt Martin Abele vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV).
Die Ursachen für Sehbehinderungen sind vielfältig. Im Alter führt am häufigsten eine Netzhautablösung oder Makula-Degeneration dazu. Doch auch Diabetes, Grauer oder Grüner Star, Thrombosen in den Augengefässen wie bei Ernst Horat oder andere Erkrankungen und Unfälle können die Sehkraft schwächen. Manche Betroffene leiden auch unter Gesichtsfeldeinschränkungen wie etwa einem Tunnelblick. Dazu kann es bei der Erbkrankheit Retinopathia pigmentosa in fortgeschrittenem Stadium kommen.
Vom Vergrössern bis zum Ertasten
Die Bedürfnisse von Menschen mit Sehbehinderung seien unterschiedlich, erklärt Abele. Menschen mit einem Sehrest benötigen in der Öffentlichkeit zum Beispiel eine gute Beleuchtung sowie Markierungen an Schwellen, Treppenstufen und Glastüren. Digitale Geräte bedienen sie häufig noch visuell. Dabei helfen ihnen starke Vergrösserungen und deutliche Kontraste, die sie individuell auf ihre Bedürfnisse anpassen können.
Blinde Menschen dagegen benützen akustische Eingaben oder eine Tastatur mit Brailleschrift. Sie lassen sich von einem Hund führen oder bewegen sich mit einem Stock. Dazu brauchen sie Strukturen am Boden wie etwa tastbare Leitlinien oder Randsteine. «Menschen, die erst spät im Leben erblinden, fällt es häufig schwerer, diese neue Art der Orientierung zu erlernen», sagt Abele. Oft würden auch Gehör und Tastsinn nicht mehr so gut funktionieren wie bei Jüngeren. «Manchen fehlt dann die Energie fürs Umlernen. Somit sind sie vermehrt auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen.»
Zugfahren rechtzeitig üben
Auch Ernst Horat ist froh, dass er im Alltag auf seine Frau und Bekannte zählen kann. Dennoch ist es ihm wichtig, so viel wie möglich noch selber zu machen: einen Kaffee zubereiten, kleinere Einkäufe erledigen oder den Weg zum Bahnhof gehen. Bis vor drei Jahren ist er noch Auto gefahren. Da er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nur wenig vertraut war, musste er nun schleunigst umlernen. «Es empfiehlt sich, das Zug- und Busfahren zu üben, bevor man gar nichts mehr sieht», betont Horat, der unterdessen nur noch Silhouetten erkennen kann.
Im Treppenhaus vor seiner Wohnung hängen Bilder mit feinen Farbabstufungen, die er vor vielen Jahren selber gemalt hat. Diese werden für ihn nun für immer in der Dunkelheit bleiben. Noch vor zwei Monaten hatte er seinem Buch den Titel gegeben: «Wenn die Sehkraft nachlässt». Heute würde er ihn anders formulieren, sagt Ernst Horat wehmütig. Treffender wäre: «Wenn die Sehkraft erlischt».
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