Integration an der BerufswahlschuleWie brasilianische Jugendliche in Oberrieden Anschluss finden
Melissa und Marcos Biriba Ribeiro werden an der Berufswahlschule Horgen integriert. Die beiden brasilianischen Geschwister berichten von den Tücken der Integration und ihren Träumen.

Hochkonzentriert sitzen die rund 15 Jugendlichen an ihren Pulten – den Kopf tief in die Hefte gebeugt. An diesem Vormittag lässt sich die Ruhe im Klassenzimmer in der Berufswahlschule Horgen (BWS) an der Seestrasse in Oberrieden kaum stören. Unter den Schülern sitzen die beiden Geschwister Melissa und Marcos Biriba Ribeiro, die erst vor kurzem in die Klasse gekommen sind. Vor drei Monaten sind sie von Brasilien in die Schweiz gereist. Seit Ende 2020 wohnen sie in Adliswil und besuchen die Integrationsklasse an der BWS.
«Unser Lehrer sagt jeweils, dass wir eine kleine Familie sind, und das stimmt auch», sagt die 17-jährige Melissa. Die Kommunikation auf Hochdeutsch verläuft noch etwas stockend. Teilweise beantworten die beiden die Fragen des Interviews auf Englisch. Unterrichtet werden die Geschwister von Lehrer Josef Brander. Ihre Mitschüler in Oberrieden stammen unter anderem aus Pakistan, Sri Lanka, Portugal oder Italien. Das Berufsvorbereitungsjahr Sprache und Integration richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene mit wenigen bis keinen Deutschkenntnissen. Es sind auch Flüchtlinge unter den Schüler. Die Lernenden werden in dieser Klasse gezielt auf eine Berufslehre vorbereitet und lernen die deutsche Sprache. Je nach Aufenthaltsstatus ist das Suchen einer Lehrstelle jedoch erlaubt.
Das falsche Ticket gekauft
«Die Sprache ist der Schlüssel für die Integration», sagt Melissa. Dies erwähnt die aufgeweckte junge Frau im Verlauf des Gesprächs noch einige Male. Lebhaft beschreibt sie, dass einfache Dinge im Alltag ohne Sprachkenntnisse verunmöglicht werden, wie beispielsweise das Kaufen eines Brotes oder eines Bustickets. Belustigt schaut sie ihren Bruder an. Denn kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz handelten sich die beiden in Zürich eine Busse ein, weil sie ein falsches Ticket gelöst hatten.
An der Berufswahlschule lernen sie nun täglich, Hochdeutsch zu sprechen und zu schreiben. «Alle anderen Fächer wie Mathematik oder Werken sind ebenfalls auf Deutsch», sagt der 16-jährige Marcos. So lerne man die Sprache auf intensive Art und Weise. Während des Berufsvorbereitungsjahrs Sprache und Integration an der BWS müssen die Lernenden aber nicht nur ständig Deutsch sprechen. Sie werden, falls die Leistungen stimmen, in gewissen Fächern auch auf die normalen Klassen verteilt. So wird die Integration zusätzlich gefördert.
Der stille Rocker
Ihre Heimatstadt São Paulo verlassen mussten Melissa und Marcos wegen der Arbeit ihres Vaters, der als Programmierer tätig ist. 2018 wanderte die sechsköpfige Familie in die ungarische Hauptstadt Budapest aus und wechselte nach zwei Jahren in die Schweiz. Eigentlich gefällt ihnen die Schweiz. «Die Leute sind sehr nett und geduldig. Und es gibt sehr viel Grün und eine grosse Verbundenheit mit der Natur», sagt Melissa.
Manchmal jedoch vermisst Melissa die Menschenmasse und den Lärm, den sie sich aus São Paulo gewöhnt ist. Zudem habe sie sich an die neue Kultur anpassen müssen. «Ich bin jemand, der seine Gefühle sehr gern ausdrückt und die Menschen auch berührt. Das macht man hier jedoch nicht», sagt Melissa.
Ihr jüngerer Bruder hingegen geniesst die Ruhe sehr. «Und das, obwohl ich Rock höre», sagt er. Stolz trägt er ein Shirt der Rockband Nirvana. Nach Brasilien zurück wollen die beiden auf keinen Fall. Die Armut und die vielen politischen Konflikte sind Gründe dafür.
«Angst, keine Freunde zu finden»
Der Umzug auf einen anderen Kontinent war nicht immer leicht. «Ich hatte eine schwierige Zeit», sagt Marcos. In Brasilien hatte er eine Freundin, die Beziehung brach mit dem Wegzug nach Ungarn aber auseinander. Dort lernte Marcos erneut ein Mädchen kennen. Die beiden führen heute eine Fernbeziehung. Für ihn ist klar: «Ich will zurück nach Ungarn.»
Auch Melissa erzählt von Schwierigkeiten, die durch den Umzug in ein fremdes Land entstehen. «Ich war wütend darüber, dass wir wieder weg müssen, und hatte zudem grosse Angst, keine Freunde zu finden. Oder dass meine Noten schlecht werden und ich deshalb keine Universität besuchen kann», sagt sie. Befürchtungen, die sich laut Melissa nicht bewahrheitet haben.
Wunderliche Gepflogenheiten
Sowohl Melissa als auch ihr Bruder möchten studieren. «Am liebsten etwas mit Medizin oder in der Pflege», sagt Melissa. Ihr etwas zurückhaltenderer Bruder will eine Ausbildung im IT-Bereich absolvieren. Bis sie sich die nötigen kulturellen und sprachlichen Kenntnisse erarbeitet haben, liegt jedoch noch ein langer Weg vor ihnen. Lange hatte Melissa die Befürchtung, dass sie irgendwann zu alt für ein Studium sei. «An der BWS habe ich gelernt, dass es in Ordnung ist, sich dafür Zeit zu nehmen», sagt Melissa.
In der Lage zu sein, mit den Menschen zu kommunizieren, ist für die Integration laut Melissa das Wichtigste. «Und sich an die neue Kultur anzupassen», ergänzt Marcos. Mittlerweile amüsieren sich die Geschwister auch nicht mehr über eine «sehr europäische Gewohnheit», nämlich das öffentliche Nasenputzen. «Es ist befreiend, dass ich das in der Öffentlichkeit machen kann», sagt Melissa schmunzelnd. Als die beiden in die Schweiz kamen, hat sie diese Gepflogenheit sehr verwundert.
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