Lärmbelästigung in den Ozeanen Wenn Nemo nicht mehr nach Hause findet
Eine neue Studie zeigt, dass von Menschen verursachter Unterwasserlärm schädlicher ist als bisher angenommen. Er führt bei Meereslebewesen zu immensem Stress – und kann für die Tiere fatale Auswirkungen haben.
Schiffe, Bohrplattformen, Schnellboote, Dynamitfischen, Surfen, seismische Untersuchungen – all diese vom Menschen durchgeführten Aktivitäten haben den Ozean vielerorts zu einer unerträglichen Heimat für Meereslebewesen gemacht. Dies hat laut «New York Times» eine neue Studie herausgefunden, an der 25 Autoren aus der ganzen Welt und aus verschiedensten Bereichen der Meeresakustik mitgewirkt haben. Dieser am Donnerstag in der Zeitschrift «Science» veröffentlichte Bericht ist die umfangreichste Analyse der Erkenntnisse über die Auswirkungen der Lärmbelastung im Meer.
Menschenverursachter Lärm übertöne oft die natürliche Geräuschkulisse der Gewässer und setze die Meeresbewohner unter immensen Stress. Dies lässt sich am Beispiel von Baby-Clownfischen zeigen. Obwohl Clownfische in Korallenriffen gezeugt werden, verbringen sie den ersten Teil ihres Lebens als Larven, die im offenen Ozean treiben. Die Fische sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht orange, gestreift oder gar schwimmfähig. Sie sind noch Plankton und treiben, den Launen der Strömung ausgeliefert, im Ozean umher.
«Der Soundtrack der Heimat ist nun schwer zu hören»
Sind die Baby-Clownfische gross genug, um gegen die Gezeiten zu schwimmen, machen sie sich auf den Heimweg. Die Fische können das Riff nicht sehen, jedoch hören sie sein Blubbern und Summen. Diese Geräuschkulisse zeugt von einem gesunden Riff – auf das sich die Fischlarven verlassen, um es erreichen zu können. Der menschenverursachte Lärm kann jedoch dazu führen, dass die Baby-Clownfische orientierungslos durch die Meere irren und den Weg nach Hause nicht finden können.
«Der Kreislauf ist kaputt», sagt Carlos Duarte zu «New York Times». Der Meeresökologe an der «King Abdullah University of Science and Technology» in Saudi-Arabien ist der leitende Autor der Studie. «Der Soundtrack der Heimat ist nun schwer zu hören und ist in vielen Fällen vollständig verstummt.»
Im Ozean verschwinden visuelle Signale nach ein paar Dutzend Metern, chemische Signale nach ein paar hundert Metern. Schall kann jedoch Tausende von Kilometern zurücklegen. Meerestiere kommunizieren damit über weite Distanzen miteinander und sind sich daran gewöhnt, Geräusche zu erkennen. Delfine rufen sich so gegenseitig spezifische Namen zu, Krötenfische summen, Bartrobben trällern, Wale singen.
Lärm beeinflusst unzählige Meereslebewesen
Laut Co-Autorin Christine Erbe, Direktorin des «Center of Marine Science and Technology» an der «Curtin University» in Perth, Australien, sind sich Wissenschaftler seit etwa einem Jahrhundert über den menschenverursachten Unterwasserlärm und dessen weiten Ausbreitung bewusst. Doch fokussierte sich die bisherige Forschung zur Auswirkung von Lärm primär darauf, wie einzelne grosse Tiere auf temporäre Lärmquellen reagieren. Ein Beispiel dafür wäre ein Wal, der während seiner Wanderung einen Umweg um Ölplattformen macht.
Die neue Studie zeigt nun jedoch auf, wie Unterwasserlärm unzählige Gruppen von Meereslebewesen beeinflusst, darunter Zooplankton und Quallen. «Das Ausmass des Problems der Lärmbelästigung ist uns erst kürzlich bewusst geworden», sagt Erbe.
Die Idee zu diesem umfassenden Bericht kam Duarte vor sieben Jahren. Er hatte das Gefühl, dass das Thema auf globaler Ebene nicht erkannt wurde. Zudem stellte er fest, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft, die sich mit der Geräuschkulisse der Ozeane beschäftigte, relativ klein war und isoliert voneinander forschte. Duarte wollte alle Beweise in einem gemeinsamen Gespräch zusammenfliessen lassen.
Kann zu chronischen Hörschäden führen
Wenn sich der Lärm dauerhaft einnistet, verlassen einige Tiere das Gebiet für immer. Als akustische Störsender installiert wurden, um Robben davon abzuhalten, auf Lachsfarmen im Broughton-Archipel in British Columbia zu jagen, gingen laut einer Studie aus dem Jahr 2002 die Killerwalpopulationen deutlich zurück, bis die Geräte entfernt wurden.
Wenn Tiere ihr Territorium aufgeben und um die gleichen Ressourcen kämpfen müssen, führt dies zu einer Verringerung des Tierbestands. Eine weitere Auswirkung: Selbst temporäre Geräuschemissionen können bei Meeresbewohnern, die das Pech haben, in den akustischen Sog zu geraten, zu chronischen Hörschäden führen.
Situation nicht aussichtslos
Die positive Nachricht: Anders als Treibhausgase oder Chemikalien sei Schall eine relativ kontrollierbare Umweltbelastung. «Lärm ist so ziemlich das am einfachsten zu lösende Problem im Meer», sagt der Co-Autor Steve Simpson, der seit 20 Jahren die Bioakustik unter Wasser untersucht. «Wir wissen genau, was Lärm verursacht, wir wissen wo er ist und wie man ihn stoppen kann.»
Die Forscher haben mehrere Lösungsvorschläge. Schiffe sollen unter anderem langsamer fahren, sensible Bereiche umgehen und ihre Propeller gegen leisere Konstruktionen auswechseln. Auch der aufstrebende Tiefsee-Bergbau ist laut den Forschern eine grosse Quelle von Unterwasserlärm. Deshalb schlagen sie vor, dass neue Technologien entwickelt werden könnten, um den Schall zu minimieren. Zudem hoffen die Forscher, dass die Studie auch bei politischen Entscheidungsträgern einschlägt.
Laut den Forschern hat die Corona-Pandemie viele ungeplante Experimente hervorgebracht. Der Schiffsverkehr fuhr herunter, die Ozeane wurden relativ still und Meeressäuger und Haie kehrten in die zuvor lärmbelasteten Wasserstrassen zurück, wo sie vorher nur selten zu sehen waren. «Die Erholung kann fast sofort eintreten», stellt Duarte erfreut fest.
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