Analyse zu Kamala HarrisWeiblich, schwarz, angriffslustig
Der Vater aus Jamaika, die Mutter aus Indien: Mit der linksliberalen, aufstrebenden Kamala Harris als Vize-Kandidatin stellt Joe Biden die Weichen für den Wahlkampf – die 55-Jährige hat aber auch Kritiker in den eigenen Reihen.
Wahlkampf ist ein hartes, skrupelloses Geschäft, und Kamala Harris kann hart und skrupellos sein. Einer, der das zu spüren bekommen hat, ist Joe Biden. Das war vor gut einem Jahr, im Juni 2019. Der demokratische Vorwahlkampf hatte damals gerade begonnen, die Präsidentschaftsbewerber traten zu ihren ersten Fernsehdebatten an. Und Harris, die aufstrebende Senatorin aus Kalifornien, nutzte die Gelegenheit, um Biden, den alten Parteigranden, zu attackieren – und, wenn möglich, schon früh vom Thron zu stossen.
Der Angriff war nicht einmal sehr subtil. Harris bezichtigte Biden kaum verholen, ein Rassist zu sein. Er sei in den Siebzigerjahren dagegen gewesen, dass schwarze Kinder in Schulbussen zu weissen Schulen gefahren werden, warf sie ihm vor. Und er habe als Senator mit offen rassistischen Kollegen zusammengearbietet, deren «Zivilität» er bis heute lobe. Harris wusste natürlich, dass das eine ziemlich verkürzte Darstellung von Bidens Ansichten war. Aber ihr Wahlkampf lief nicht so gut, sie musste ein paar spektakuläre Treffer landen. Also ging sie auf Biden los.
Genutzt hat es wenig. Harris' Wahlkampf lief auch nach der Attacke nicht besser, im Dezember gab sie ihre Präsidentschaftsbewerbung auf. Biden hingegen blieb im Rennen, er überstand die restlichen Debatten und gewann danach Wahl auf Wahl. Am Dienstag zeigte er, dass er kein nachtragender Mensch ist, und machte Kamala Harris zu seiner Vizekandidatin. Ob das nun eine Geste echter Vergebung und Freundschaft war oder ob da nur ein Zweckbündnis für den Wahlkampf gegen Donald Trump geschmiedet wurde – wer weiss. Jedenfalls kann Biden sicher sein, dass er mit einer Frau an seiner Seite in diesen Kampf zieht, die austeilen kann.
Harris erfüllt zwei wichtige Kriterien
Eine Überraschung war die Auswahl von Harris nicht. Die 55 Jahre alte Einwanderertochter, deren Vater aus Jamaika und deren Mutter aus Indien stammt, erfüllt gleich zwei Kriterien, die der demokratische Running Mate in diesem Jahr zwingend erfüllen muss. Erstens: Sie ist eine Frau. Joe Biden selbst hatte schon vor Monaten versprochen, dass er eine Vizekandidatin ernennen werde, wenn die Demokraten, die immer noch unter der Niederlage von Hillary Clinton leiden, dieses Jahr wieder mit einem Mann an der Spitze ins Rennen ums Weisse Haus gehen. Zumal mit einem, der schon 77 ist.
Zweitens: Harris ist eine Schwarze. Dass die Demokraten den Präsidentschaftswahlkampf 2020 nicht mit einem rein weissen Kandidatenduo bestreiten würden, war ebenfalls seit Langem klar. Das können sich vielleicht die Republikaner leisten, aber nicht die Partei, die beansprucht, das junge, bunte, moderne Amerika zu repräsentieren. Offen war nur, welcher ethnischen Mindertheit die Vizekandidatin angehören würde – Afroamerikanerin oder Latina.
Eine Latina zur Vizekandidatin zu machen, wäre verlockend gewesen.
Hätte Biden strikt nach der Wahlarithmetik entschieden, hätte eine Latina wohl die grösseren Chancen gehabt. Die Latinos sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in den USA, und Trumps aggressive, zuweilen offen rassistische Immigrationspolitik treibt sie den Demokraten geradezu in die Arme. In etlichen Bundesstaaten im Südwesten, die früher zuverlässig republikanisch waren, holen die Demokraten deswegen auf. Bei der Wahl im November könnte Arizona fallen, sogar Texas kippelt. Eine Latina zur Vizekandidatin zu machen, wäre daher verlockend gewesen.
Aber die Frage nach der Vizekandidatin anhand von kalten Statistiken zu entscheiden, war in diesem Jahr unmöglich. Für Amerikas Schwarze war dieser Sommer ebenso traumatisch wie befreiend. In Georgia wurde der Jogger Ahmaud Arbery von weissen Rassisten ermordet, in Minneapolis tötete ein weisser Polizist George Floyd – zwei Fälle von Dutzenden jedes Jahr. Aber dieses Mal schaute das Land nicht weg. Millionen Menschen demonstrierten überall gegen Polizeibrutalität und Rassismus.
Eine politische Richtungsentscheidung
2020 ist in Amerika das Jahr der Corona-Pandemie, von Leid und Tod. Aber 2020 ist auch das Jahr von «Black Lives Matter». Das wird sich bei der Wahl im November zeigen, und das weiss auch Biden. Erst vor ein paar Tagen forderten ihn Dutzende prominente Afroamerikaner in einem Brief auf, eine Schwarze zur Vizekandidatin zu machen. Andernfalls werde er die Wahl verlieren, warnten sie.
Und Biden weiss noch etwas: Es waren die Schwarzen, die ihm in den demokratischen Vorwahlen die Haut gerettet und den Sieg gebracht haben. Die Weissen, die Jungen, die Intellektuellen, die Latinos – sie rannten Bernie Sanders hinterher, jubelten Elizabeth Warren zu oder stimmten für Pete Buttigieg. Aber die meisten Afroamerikaner hielten zu Joe Biden, dem früheren Vizepräsidenten von Barack Obama. Dass Biden nun Kamala Harris zur Vizekandidatin gemacht hat, ist auch eine Dankesgeste.
Kamala Harris ist zwar eine solide linksliberale Politikerin, aber sie ist keine sozialistische Kämpferin.
Vor allem aber war die Auswahl von Harris eine politische Richtungsentscheidung. Biden hat sich entschlossen, als Reformer anzutreten, nicht als Revolutionär. Den ganzen Vorwahlkampf über hat er den linken Flügel auf Abstand gehalten und sich den Wählern als gemässigter, unideologischer Pragmatiker vorgestellt, der das zerrissene Land heilen kann.
Die demokratischen Wähler haben ihn dafür mit der Präsidentschaftskandidatur belohnt – nicht zuletzt, weil es ihnen wichtiger ist, den verhassten Donald Trump aus dem Weissen Haus zu jagen als wieder die Krankenversicherung umzukrempeln, die Grenzschutzbehörde ICE abzuschaffen oder – so die jüngste Forderung aus dem Aktivistenlager – der Polizei das Geld zu streichen. Kamala Harris ist zwar eine solide linksliberale Politikerin, aber sie ist keine sozialistische Kämpferin. Politisch passt sie daher gut zu Biden.
Trumps Team versucht, Biden als senil darzustellen
Die Personalie bestätigt allerdings auch ein altes Gesetz, das in Wahlkämpfen und im Krieg gilt: Der Feind redet bei allen Entscheidungen mit. Trumps Wahlkampfteam probiert seit Monaten verschiedene Vorwürfe und Unterstellungen gegen Biden aus, ohne dass der Demokrat darunter nennenswert gelitten hätte. Interne Umfragen der Trump-Kampagne zeigen jedoch, dass Bidens Ruf als moderater Mitte-Politiker nicht unerschütterlich ist. Trumps Leute schiessen sich deswegen auf die Behauptung ein, Biden sei zu senil, um noch eigene Entscheidungen zu treffen, er sei in Wahrheit nur eine tatterige Marionette der Linksradikalen, die Amerika hassten und es zerstören wollten.
Das ist zwar Blödsinn. Aber die Gewalt, die Amerikas Städte in diesem Sommer erschüttert hat, hat vielen Wählern Angst gemacht. Und Trump schürt diese Angst, weil er sie in Angst vor Biden umwandeln will. Eine linkere, vielleicht etwas lautere, wütendere Politikerin als Vize auszuwählen, hätte es den Republikanern leichter gemacht. Es dauerte am Dienstag ohnehin keine fünf Minuten, bis die Trump-Kampagne ihren ersten Wahlwerbespot veröffentlichte, in dem Harris als gefährliche Linksradikale geschmäht wurde – auch wenn es dafür keinen Beleg gibt.
Das beste Wahlkampfargument der Demokraten heisst Donald Trump.
Die Ironie dabei ist, dass ausgerechnet die Demokraten, die man mit viel Übertreibung tatsächlich als linksradikal bezeichnen könnte – der harte Kern der Bernie-Sanders-Jünger -, alles andere als erfreut waren über Harris' Ernennung. In ihren Augen ist die Senatorin eine konservative Polizistenfreundin, die auf der Seite der Mächtigen steht, nicht auf der der Unterdrückten.
Dieses harsche Urteil begründen die Kritiker unter anderem mit Harris' Zeit als Staatsanwältin und Justizministerin in Kalifornien von 2004 bis 2017, während der sie kein besonders grosses Interesse gezeigt hatte, schiesswütige Polizisten vor Gericht zu stellen. Stattdessen liess sie – zumeist schwarze – Kleinkriminelle einbuchten und bezeichnete sich selbst stolz als Top Cop, als Spitzenbulle. Das klingt heute sehr aus der Zeit gefallen und rächt sich jetzt.
Ob es im November aber tatsächlich eine nennenswerte Zahl von enttäuschten Linksliberalen davon abhalten wird, für Harris – und damit für Biden – zu stimmen, ist eine ganz andere Frage. Das beste Wahlkampfargument der Demokraten heisst schliesslich weder Joe Biden noch Kamala Harris. Sondern Donald Trump.
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