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Video

Acht Tote in Hamburg
Der Amokschütze war selbst Zeuge Jehovas und hasste die Gemeinschaft

Ein Video, das Nachbarn aufgenommen haben, zeigt eine Person, die wie ein Schatten wirkt. In mehreren Salven schiesst die Person durch ein hell erleuchtetes Fenster in ein Gebäude. Dann sieht man, wie die Person in das Gebäude einsteigt und hört weitere Schüsse.

Der Tatort liegt im Norden der Millionenstadt Hamburg, in Richtung des Flughafens, an der Grenze der Stadtteile Alsterdorf und Gross-Borstel. In einem schmucklosen dreistöckigen Zweckbau trifft sich hier die christliche Gemeinschaft der Zeugen Jehovas. Im sogenannten «Königreichssaal» kommen am Donnerstag 36 Gläubige zusammen.

Als um 21 Uhr die Schüsse fallen, ist eine Spezialeinheit der Polizei in Kürze vor Ort. Das Polizeipräsidium liegt nur einen Kilometer entfernt, die Spezialisten, die eigentlich gerade Feierabend machen wollten, waren zufällig in der Nähe. Als die Beamten gewaltsam ins Gebäude eindringen, finden sie im Erdgeschoss mehrere leblose und verletzte Menschen vor und sehen den Täter in den ersten Stock fliehen. Kurz darauf fällt ein letzter Schuss. Der Täter liegt tot am Boden, neben sich die Tatwaffe, eine Pistole. 

Der Täter verliess die betroffene Gemeinde im Streit

Am Freitagmittag informierten die Hamburger Behörden erstmals ausführlich über Opfer und Täter. Vier Männer und zwei Frauen im Alter zwischen 33 und 60 Jahren wurden durch die Schüsse getötet, dazu ein ungeborenes Kind im Alter von 28 Wochen. Die Mutter überlebte. Vier weitere Menschen wurden lebensbedrohlich verletzt. 

Beim Täter handelt es sich um den Deutschen Philipp F., 35 Jahre alt. Der Mann war bis vor eineinhalb Jahren selbst Mitglied der Zeugen Jehovas. Die Gemeinde, die er attackierte, war jene, der er früher selbst angehört hatte. Nach den bisherigen Ermittlungen verliess Philipp F. die Gemeinschaft im Streit. Es gebe unterschiedliche Aussagen darüber, ob der Mann aus der Gemeinde austrat oder von ihr ausgeschlossen wurde, sagte die Polizei.

Anonyme Warnung: «F. ist psychisch krank»

Philipp F. war den Strafverfolgungsbehörden bisher nicht bekannt. Er war Sportschütze und besass für seine Waffe eine gültige Erlaubnis. Diese war erst vor einem Monat noch von der Waffenbehörde überprüft worden – und zwar auf einen anonymen Hinweis hin. Der Hinweis bezweifelte die Tauglichkeit von Philipp F.: Dieser habe schwere psychische Probleme, wolle sich aber nicht behandeln lassen. Er sei von Wut und Hass auf religiöse Gemeinschaften erfüllt, insbesondere auf die Zeugen Jehovas – aber auch auf seinen Arbeitgeber. Zwei Polizeibeamte überprüften Philipp F. darauf unangekündigt, konnten aber keine psychischen Auffälligkeiten oder relevante Verstösse gegen das Waffenrecht feststellen. 

Philipp F. wuchs im Allgäu auf und lebte seit 2014 in Hamburg. Er hatte Betriebswirtschaft studiert und arbeitete als Berater und Controller in der Finanzbranche. Im Internet zeigte sich Philipp F. laut der Boulevardzeitung «Bild» offensiv als religiöser Mensch. Am 20. Dezember 2022 veröffentlichte er als Autor bei einem Onlinehändler ein Buch mit dem Titel «The Truth about God, Jesus Christ and Satan» (dt. Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan). Laut Beschreibung ein «Standardwerk über Theologie und Recht».

Die Polizei geht davon aus, dass das schnelle Eindringen der Spezialeinheit ins Gebäude den Täter davon abhielt, weitere Menschen zu töten. Philipp F. leerte in kurzer Zeit 9 Magazine, schoss also rund 135-mal. 20 weitere Magazine trug er in einem Rucksack bei sich, zwei auf dem Körper, insgesamt mehr als 300 Schuss. In seiner Wohnung in Hamburg-Altona stellt die Polizei nochmals 425 Schuss sicher.

Die Hamburger Behörden informierten am Mittag über den Angriff auf das Gotteshaus der Zeugen Jehovas.  

Abwendungen von den Zeugen Jehovas führen oft zu Konflikten, nicht selten auch zu Suiziden, da die Ausgetretenen von ihrer früheren Gemeinschaft rabiat ausgeschlossen werden (Lesen Sie hier auch die wichtigsten Fragen und Antworten zur Glaubensgemeinschaft). In den USA kam es auch schon zu gewalttätigen Racheakten. Am letzten Weihnachtstag etwa erschoss ein Mann in einem Gotteshaus der Zeugen Jehovas in der Nähe von Denver seine Frau und sich selbst, nachdem er Sprengsätze gelegt hatte, die aber glücklicherweise nicht zündeten. Das Paar war ein Jahr zuvor nach Streitigkeiten aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen worden, wollte aber wieder eintreten. Erfolglos. 

Die deutsche Politik reagierte bestürzt auf die Bluttat. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zeigten sich erschüttert und dankten den Einsatzkräften. Die Hintergründe der Tat müssten jetzt erst ermittelt werden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), selbst in Hamburg aufgewachsen, sprach den Opfern und Angehörigen sein Mitgefühl aus.

Die Zeugen Jehovas äusserten sich «tief betroffen von der schrecklichen Amoktat» auf ihr Gotteshaus. «Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen», erklärte die Religionsgemeinschaft. «Die Seelsorger der örtlichen Gemeinde tun ihr Bestes, ihnen in dieser schweren Stunde Beistand zu leisten.» Die Gemeinschaft gibt an, die Bluttat habe sich «nach einem Gottesdienst» ereignet.

Spezialkräfte waren innert Minuten vor Ort.

Bei den Zeugen Jehovas handelt es sich um eine christliche Gemeinschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet wurde, von einem Bibelforscher und Verleger namens Charles Taze Russell. Weltweit gibt es etwa 8 Millionen Anhänger, die Weltzentrale liegt in New York. In Deutschland zählte die Gemeinschaft 2019 165’000 Mitglieder, in der Schweiz knapp 20’000, in Hamburg knapp 4000.

Anhängerinnen und Anhänger unterwerfen sich strengen Vorschriften. Übermässiger Alkoholgenuss, Tabak und Feiern nach dem christlichen Kalender werden genauso abgelehnt wie Bluttransfusionen. Die Zeugen Jehovas sind überzeugt, dass eine neue Welt bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde gerettet werden. Dem Staat stehen sie distanziert gegenüber. In der Öffentlichkeit sind sie vor allem durch ihre Zeitschriften «Der Wachtturm» und «Erwachet!» bekannt.

In Hamburg sind mindestens drei Veranstaltungsorte der Zeugen Jehovas bekannt, jeder weist einen «Königreichssaal» auf. Laut Zeugen aus der Nachbarschaft kommen zu den Veranstaltungen immer viele Menschen zusammen, die auffallend gut gekleidet seien: Familien, ältere und jüngere Menschen. «Die Männer trugen Anzüge, die Frauen Kleider», sagte ein Nachbar.