Medizinische Diagnose mittels Stimmproben Was die Stimme über die Gesundheit verrät
Die Forschung zur Diagnose von Krankheiten über Stimmproben befindet sich noch am Anfang und ist nicht unumstritten. Die Möglichkeiten der neuen Methode liegen vor allem in ihrer Verwendung als günstiges Frühwarnsystem.
Die Idee ist bestechend: Eine Patientin wohnt in einem abgelegenen Dorf, weit von der nächsten Arztpraxis entfernt. Sie leidet an einer kongestiven Herzinsuffizienz, bei der die Leistungsfähigkeit des Herzens beeinträchtigt ist. Regelmässig über eine App abgegebene Stimmproben könnten frühzeitig auf eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes hinweisen. Eine Herzinsuffizienz kann Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge hervorrufen, die zu Veränderungen in der Stimme führen. Die Software kann durch den Abgleich mit früheren Stimmproben solche Veränderungen aufspüren. Die Ärztin der Patientin könnte dann rechtzeitig die notwendigen Behandlungen veranlassen.
Die Stimme als Biomarker
Die Möglichkeit, Krankheiten anhand von spezifischen Veränderungen der Stimme zu diagnostizieren oder Verschlechterungen bestehender Beschwerden durch auditive Stimmproben frühzeitig erkennen zu können, wird seit einigen Jahren intensiver erforscht. In den USA hat das Nationale Gesundheitsinstitut NHI vergangenen Herbst das «Voice as a Biomarker of Health»-Projekt initiiert, für das 14 Millionen US-Dollar bereitstehen. Ziel des Projektes ist es, eine umfassende Datenbank mit Stimmproben aufzubauen, welche zur Diagnose von einer grossen Bandbreite von Krankheiten wie Krebs, neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen wie Alzheimer oder Depressionen, Atemwegserkrankungen sowie Stimm- und Sprachstörungen verwendet werden soll.
Die Forscher wollen sich dabei subtile, jedoch erkennbare Veränderungen in Tonhöhe, Lautstärke und Sprechweise von Patientinnen zunutze machen, welche auf Krankheiten hinweisen können. Dr. Yael Bensoussan, Direktorin des Health Voice Center der University of South Florida und eine der Forschungsleiterinnen des Projekts, erklärte dazu gegenüber dem Wirtschaftsmagazin «Forbes»: «Wir wissen zum Beispiel, dass bei Männern mit Parkinson eine Abnahme der Amplitude und eine Zunahme der Tonhöhe mit der Krankheit einhergehen kann. Bei Stimmbandkrebs wiederum ist das erste Symptom normalerweise eine Veränderung der Stimme, denn selbst ein kleines Krebsgeschwür beeinflusst, wie die Stimmbänder vibrieren. Die Klangqualität wird rau sein. Wenn der Krebs wächst, kann er die Atemwege verkleinern. In diesem Fall hören Sie jetzt eine sehr raue Stimme mit einem Atemgeräusch beim Einatmen.»
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Machine Learning zur genauen Stimmanalyse
Das Projekt wird zur genauen Analyse der Stimmproben und zur Anonymisierung der Daten mit dem französischen Start-up Owkin zusammenarbeiten, das auf medizinische künstliche Intelligenzen spezialisiert ist. Dabei sollen Stimmmuster von über 30’000 gesunden als auch kranken Probanden erfasst werden. Die Forscher werden mithilfe einer eigens entwickelten App die Stimmproben sammeln, die dann zu Audio- und Spektrogrammen umgewandelt werden, die von den Algorithmen einer künstlichen Intelligenz erkannt und analysiert werden können.
Das Forschungsprogramm ist zudem Teil des «Bridge to AI»-Wissenschaftsprojekts, das zum Ziel hat, gross angelegte Gesundheitsdatenbanken für die Präzisionsmedizin zu erstellen, die von verschiedenen Gesundheitsinstitutionen benutzt werden können.
Den Vorteil der Stimmproben sehen die Wissenschaftler vor allem auch in den verhältnismässig niedrigen Kosten, welche das Projekt etwa im Gegensatz zur Erforschung und Sammlung von genetischen Biomarkern hat. Auch könnten dadurch Leute mit geringen Einkommen zu einer günstigen Art der Vorsorgemedizin kommen: «Jemand könnte die Stimme des Patienten registrieren und die App sagen lassen, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für Kehlkopfkrebs besteht und man den Patienten zu einem Experten schicken sollte. Künstliche Intelligenz für das Screening wird in Zukunft wirklich wichtig sein», sagte Bensoussan gegenüber dem Technologieportal «The Verge».
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Zahlreiche Schwachpunkte
So faszinierend die Möglichkeiten der Früherkennung und Begleitung von Krankheiten durch Stimmproben erscheinen mögen, so zahlreich sind die Kritikpunkte, welche der Methode entgegengebracht werden. So strebt das amerikanische Start-up Kintsugi, dass eine künstliche Intelligenz zur Erkennung von Depressions- und Angststörungen entwickelt hat, eine Zulassung durch die amerikanische Gesundheitsbehörde an. Das US-Unternehmen Sonde Health, das akustische Biomarker für Atemwegs- und psychische Erkrankungen entwickelt, sieht sein Angebot hingegen explizit als Frühwarnsystem und nicht als medizinische Diagnosemethode, wie der CEO der Firma gegenüber dem Nachrichtenportal Axios betonte.
Ein Artikel in der Fachzeitschrift «Digital Biomarkers» weist auf die Gefahr hin, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen und im Besonderen Gruppen mit starken Akzenten von den Algorithmen verzerrt analysiert werden könnten, wenn die verwendeten Datensätze nicht heterogen genug trainiert werden. Auch monieren Kritiker wie die Anthropologieprofessorin Beth Michelle Semel, dass die Fähigkeiten künstlicher Intelligenzen, Krankheitsbilder anhand von stimmlichen Biomarkern zu identifizieren, gerade von den Entwicklern und Start-ups selber übertrieben dargestellt wird, da sich die Technologie noch am Anfangsstadium ihrer Entwicklung befindet. Zudem müssen potenzielle Missbräuche der Stimmproben durch angemessenen Datenschutz sichergestellt werden.
App gegen Herzversagen
Derweil ist die Entwicklung einer Frühwarnapp, die Patientinnen mit Herzinsuffizienz vor Komplikationen oder sogar dem Tod bewahren könnte, bereits weit fortgeschritten. In den nächsten vier Jahren soll die App «HearO» an fünfhundert Probanden getestet werden. Die Software soll subtile Veränderungen in der Sprechweise und dem Stimmmuster der Patienten, wie eine gedämpftere Stimme, erkennen. Diese Modifikationen können durch verstopfte Atemwege als Resultat der schwächeren Herzleistung verursacht werden.
Dr. Rami Kahwash, Direktor der Herzabteilung am Ohio State University Wexner Medical Center, an dem die Studie stattfindet, sieht den grossen Vorteil der stimmlichen Biomarker vor allem in ihrer nicht invasiven Art, da Herzoperationen sonst mit grossem Aufwand und Komplikationen verbunden sein können: «Wenn ich meinen Patienten die Auswahl gebe, entweder in der Klinik eine App auf ihrem Smartphone zu installieren oder sie für einen Eingriff ins Katheterlabor zu bringen, werden sie natürlich Ersteres bevorzugen», wie er gegenüber der Zeitung «The Lantern» sagte.
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