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Meinung

Kommentar zu Gräueltaten in der Ukraine
Warum Zurückhaltung in einem Krieg von Haltung zeugt

Ein Massengrab im ukrainischen Butscha.
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BotTalk

Alles deutet darauf hin, dass in Butscha Kriegsverbrechen verübt wurden. Alles deutet darauf hin, dass russische Truppen dafür verantwortlich sind. Journalisten waren vor Ort und bestätigten, was auf den schrecklichen Bildern zu sehen ist. Es gibt erste Zeugenaussagen.

Medien konnten die Behauptung Russlands, es handle sich um eine Inszenierung der ukrainischen Seite, rasch entkräften. Satellitenbilder zeigen, dass die Leichen nicht erst nach dem Abzug der russischen Truppen auf den Strassen Butschas lagen, wie Russland behauptet. Videoanalysen ergaben keine Hinweise auf Manipulationen.

Der Fall scheint klar zu sein. Wozu also eine langwierige Untersuchung? Wozu nicht gleich die Schuldigen benennen? Die Twittergemeinde hat ihr Urteil längst gefällt. Der Begriff des «Völkermordes», den der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski für die Gräueltaten verwendete, verbreitete sich in Windeseile.

Bundespräsident Ignazio Cassis erntete in der Folge Kritik dafür, dass die Schweiz lediglich eine unabhängige internationale Untersuchung forderte und «alle Seiten» dazu aufrief, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Das sei «schwer erträglich», twitterten Nationalrätinnen. Parteipräsidenten forderten klarere Worte. «Unfassbar», lautete das Verdikt eines Soziologen. Cassis musste sich rechtfertigen. Medien wurden angefeindet, weil sie das Dementi Russlands überhaupt erwähnten oder von «mutmasslichen russischen Kriegsverbrechen» berichteten.

Die Tendenz zu sofortigen abschliessenden Urteilen ist befremdlich.

Vielleicht hätte Cassis tatsächlich deutlichere Worte wählen können, wie er tags darauf selber einräumte – trotz seiner Rolle, trotz der Neutralität. Und Medien sind selbstverständlich gehalten, die Darstellung der tatverdächtigen Seite einzuordnen. Doch die Tendenz zu sofortigen abschliessenden Urteilen ist befremdlich. Oder wollen wir künftig auch auf Twitter entscheiden, ob Mordverdächtige schuldig sind?

Was genau in Butscha und anderswo passiert ist und wer die Verantwortung dafür trägt, müssen die zuständigen Instanzen sorgfältig untersuchen. Ebenso die Frage, ob es sich um einen Völkermord handelt. Voraussetzung dafür wäre die Absicht, ein Volk teilweise oder ganz auszulöschen, wie Experten erklären. Ob ein solcher Plan existiert, kann niemand vom Sofa aus beurteilen.

Gerade weil uns aus dem Ukraine-Krieg Bilder in Echtzeit erreichen, ist Zurückhaltung geboten.

Weder Empörungstweets noch journalistische Faktenchecks sind ein Ersatz für Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Wenn wir Autokraten und Diktatoren etwas entgegenhalten können, dann sind es die Prinzipien des Rechtsstaats. Das heisst nicht, dass wir den Aggressor erst benennen dürfen, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind. Es heisst auch nicht, dass wir bei der Umsetzung von Sanktionen zögerlich vorgehen sollten. Für entschlossene Reaktionen reicht allein die Tatsache, dass es sich um einen Angriffskrieg Russlands handelt.

Doch wer in einem Krieg beide Seiten ermahnt, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, ist noch lange kein «Putin-Versteher». Gerade weil uns aus dem Ukraine-Krieg Bilder in Echtzeit erreichen, ist Zurückhaltung geboten. Bei allem verständlichen Entsetzen, bei aller berechtigten Empörung: Dem Druck der sozialen Medien nach glasklaren Soforturteilen nachzugeben, ist in einem Krieg mit Propagandaschlachten keine gute Idee.