Gastbeitrag zur PandemieWarum wir die Corona-Zeit verarbeiten müssen
Es braucht ein landesweites Dialogprojekt, um die Auswirkungen der Corona-Zeit zu verarbeiten. Für den sozialen Zusammenhalt und für künftiges Krisenmanagement.
Für viele in der Schweiz ist das Kapitel Corona abgeschlossen. Sie sind müde und erleichtert, nicht mehr ständig daran denken zu müssen. Doch die Auswirkungen der Corona-Zeit sind in unserer Demokratie, in unserem Miteinander und bei vielen auch finanziell nach wie vor spürbar. Diese Spuren müssen wir persönlich und gesellschaftspolitisch verarbeiten.
Das letzte Covid-19-Referendum zeigte, dass die Verarbeitung der Corona-Zeit kein Nischenthema ist. Obwohl es keine Massnahmen mehr gab, lehnten im Juni immer noch 883’740 Stimmberechtigte das Gesetz ab. Dies entspricht 38 Prozent des Stimmvolks und immerhin 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Thema bewegt weiterhin viele.
Mitte September hat der Ständerat eine Evaluierung der Massnahmen angestossen. Das ist neu − und wichtig. Anders als in Liechtenstein oder Österreich gab es in der Schweiz bisher keine Pläne, die Corona-Jahre über die Gesundheitspolitik hinaus anzuschauen. Massnahmenkritische Gruppierungen fordern dies schon länger. Die aktuelle «Aufarbeitungsinitiative» aber polarisiert und wird instrumentalisiert.
Viele Entscheidungen mussten mit wenig Information getroffen werden. Es ist wichtig, zu verstehen, was gut lief und was nicht.
Es braucht neben der politischen Evaluierung auch eine von der Zivilgesellschaft getragene Verarbeitung der Corona-Zeit. Demokratien sind – im Gegensatz zu totalitären Systemen – lernfähig. Viele Entscheidungen zu Corona mussten mit wenig Information getroffen werden. Es ist wichtig, zu verstehen, was gut lief und was nicht. Nur so lernen wir für nächste Krisen wie die Klimakrise.
Internationale Erfahrungen zeigen, dass Krisen Spannungen verstärken, wenn sie nicht gemeinsam verarbeitet werden. Corona und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind zur rhetorischen Kampfarena geworden – gegenseitige Vorwürfe, das Land zu spalten, sind jetzt im Wahlkampf weitverbreitet. Zunehmend gewaltbereite Strömungen ziehen auch Menschen an, die einfach gehört werden wollen – weil sie vom sterbenden Vater nicht Abschied nehmen konnten, weil sie ihr Restaurant schliessen mussten oder weil sie sich als Ungeimpfte ausgeschlossen fühlten. Nur wenn wir emotional schwierigen Themen gesellschaftlich Raum geben, können wir diese Sogwirkung verhindern.
Deshalb schlagen wir ein schweizweites Dialog- und Partizipationsprojekt vor, das hilft, die Corona-Zeit zu verarbeiten. So könnte es aussehen: Persönliche Lebensgeschichten aus der Zeit geben unterschiedlichen Betroffenheiten ein Gesicht. Eine daraus entstehende Wanderausstellung und ein illustriertes Buch laden zu einer moderierten Dialogreihe ein. Verteilt über alle Landesteile kommen Menschen an 50 Orten ins Gespräch. Diese Erfahrungen werden regional zusammengezogen. Teilnehmende erarbeiten zum Schluss mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern und der Verwaltung konkrete Ideen für ein besseres Krisenmanagement.
Dieser Prozess ist ambitioniert und wird nicht einfach, aber wir müssen uns dem Thema gemeinsam stellen. Denn die nächste Krise kommt.
Claudia Meier arbeitet bei der Nichtregierungsorganisation Build Up im Konfliktmanagement, Cordula Reimann ist selbstständige Prozess- und Dialogbegleiterin.
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