Warum will der Mann nicht mehr kuscheln?
Sexualwissenschaftlerin Andrea Burri beantwortet eine Leserfrage zu den Auswirkungen einer Prostata-Operation.
Verspürt der Mann nach einer totalen Prostatektomie auch keine Lust mehr auf Zärtlichkeit und Kuscheln? Die Hormone sind ja noch vorhanden, oder?
Die radikale Prostatektomie bezeichnet ein Verfahren, bei dem die Prostata vollständig entfernt wird. Es stellt derzeit den Hauptanteil der kurativen Behandlungsmöglichkeiten beim organbegrenzten Prostatakrebs dar. Es handelt sich hierbei um eine anatomisch schwierige Operation, bei der die für die Erektion notwendigen Nervenfasern oft geschädigt werden, was in der Regel zum Verlust der Erektionsfähigkeit führt – einer sogenannten postoperativen erektilen Dysfunktion. Dies ist laut einer gross angelegten epidemiologischen Studie in bis zu 88 Prozent der Eingriffe der Fall. Nur selten lässt es der Krebs zu, dass diese Fasern durch schonende OP-Techniken erhalten werden. Aber auch bei einer nervenschonenden OP treten in der Regel Erektionsprobleme auf, welche im Verlauf einiger Monate wieder nachlassen können. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.
Nebst den Erektionsproblemen kann es nach einem solchen Eingriff zu einer Reihe weiterer sexueller Problemen kommen. So erleben viele Männer den Orgasmus nach der Prostatektomie als wesentlich weniger intensiv und manche Männer können gar keinen Orgasmus mehr haben (sogenannte Anorgasmie).
Eine radikale Prostata-OP führt zudem immer zum Verlust der Ejakulation, da nebst der Prostata auch die Samenblasen entfernt werden. In den ersten Monaten nach der Operation kann es auch zu einer Inkontinenz kommen, die von vielen als peinlich erlebt wird und zu Vermeidung von sexuellen Aktivitäten führt.
Wie Sie richtig erwähnen, hat die radikale Prostatektomie keine direkten Auswirkungen auf die Testosteronproduktion und sollte demnach die sexuelle Lust nicht beeinträchtigen. Und dennoch klagen bis zu 80 Porzen über Libidoverlust, was jedoch hauptsächlich psychische Ursachen hat. Die beschriebenen Sexualprobleme wie die Erektionsstörungen führen nämlich oft zu sexuellem Frust, zu einem Gefühl des Versagens, kein richtiger Mann mehr zu sein und die Frau nicht mehr befriedigen zu können. Denn die Sexualität und die sexuelle Funktion bleiben auch im reiferen Alter ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeit und des Selbstwerts. Hinzu kommen andere Ängste, zum Beispiel, dass die Partnerin ihn verlassen wird oder dass der Krebs zurückkehren könnte. Dies erschüttert das Selbstwertgefühl zutiefst und viele Betroffene ziehen sich von ihrer Partnerin zurück und gehen allen Zärtlichkeiten aus dem Weg.
Hier ist es wichtig, den Betroffenen bereits vor der OP über die möglichen Konsequenzen aufzuklären und die Partnerin von Anfang an miteinzubeziehen. Denn auch bei der Partnerin kann es zu Zweifeln kommen, wenn sie die zunehmende Abweisung und Isolation des Partners wahrnimmt, jedoch aufgrund mangelnder Kommunikation nicht weiss, was im Partner vorgeht. Indem man sich gemeinsam von den Defiziten abwendet und Alternativen zum Geschlechtsverkehr bespricht, können sich so neue Perspektiven für ein erfülltes Sexualleben auftun. Doch gilt es, nicht zu vergessen, dass viele der Betroffenen in einem Alter sind, in dem unabhängig von der OP die Testosteronproduktion abnimmt und dies die sexuelle Lust ebenfalls negativ beeinflussen kann. Hier kann eine medikamentöse Behandlung im Sinne einer Testosteronsubstitution hilfreich sein.
Dieser Artikel wurde erstmals am 19. Juli 2016 publiziert und am 5. Juni 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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