Warum Johnson selbst von Skandalen profitiert
Ein häuslicher Streit von Boris Johnson landet im Wortlaut in den Medien. Warum ihm das nützt.
Er witzelte, wand sich, lenkte ab – keine Minute aber ging Boris Johnson bei der Wahlveranstaltung am Samstag in Birmingham auf das ein, worüber das politische England am Wochenende sprach: Der angehende Premier hatte sich in der Nacht auf Freitag so laut mit seiner Freundin gestritten, dass Nachbarn die Polizei holten. Offensichtlich hatte er zunächst Rotwein auf dem Sofa verschüttet, worauf seine Freundin ihn anschrie, er sei verzogen und kümmere sich nicht um Geld.
Dass wir so genau über den Inhalt des Streits Bescheid wissen, verdanken wir den Nachbarn. Die riefen nicht nur die Polizei, sondern zeichneten mit ihren Smartphones auch den Wortlaut der Auseinandersetzung auf. Dann verklickerten sie das Material brühwarm an die Medien. Was just an jenem Samstag, als Johnson die erste von 16 Wahlkampfveranstaltungen abhielt, zu unangenehmen Schlagzeilen führte. Ein denkbar schlechtes Timing. Oder vielleicht doch nicht?
Für einen Politiker klassischer Prägung hätte ein solcherart öffentlich gemachter privater Ausfall schnell gefährlich werden können. Schliesslich will man sich, kurz bevor man möglicherweise britischer Premier wird, so seriös und vertrauenswürdig wie möglich zeigen. Doch in der Welt 2.0 werden solche Regeln schnell in ihr Gegenteil verkehrt. So trampelte Donald Trump im US-Wahlkampf 2016 von Fettnapf zu Fettnapf – bis zum «Grab them by the pussy»-Tape. Doch sein grenzwertiges Verhalten schien ihm sogar zu nützen.
Disruption ist zu einem Wert geworden
Dasselbe gilt offensichtlich auch für Johnson. Am Samstag versuchte der Moderator verschiedentlich, Boris Johnson auf den häuslichen Streit anzusprechen, bis das Publikum zu buhen begann. Nicht wegen Johnson, sondern wegen der Fragen.
In der Welt 2.0 ist Disruption ein Wert an sich. Neu und unkonventionell auftretende Politiker haben Vorteile, gerade wenn sie sich nicht an die Regeln von Sitte und Protokoll halten und dafür kritisiert werden. Wer nie einen tadellosen Ruf hatte, kann ihn auch nicht verlieren. Und gilt man erst einmal als Outlaw, erschüttern Skandale nicht in erster Linie das Vertrauen, sondern stärken nur das eigene Image des Aussergewöhnlichen, dem man das Wagnis des Antikonventionellen zutraut. Sodass die Skandale schliesslich als Problem der Medien wahrgenommen werden – und nicht mehr als Problem des Politikers.
Die klassischen Medien sind eine Macht, in die heute jeder seinen privaten Frust projiziert. Je heftiger sich die Presse auf persönliche Skandale disruptiver Politiker stürzt, desto mehr verleiht sie ihnen einen Opferstatus und verschafft ihnen so zusätzlich Sympathien. Wofür der Johnson-Skandal das beste Beispiel ist. Denn wer hat noch nie mit seiner Freundin gestritten, dass es auch die Nachbarn hören konnten? Und wer möchte das in der Zeitung lesen? Eben.
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