Warum ist treu sein so schwer?
Sexualwissenschaftlerin Andrea Burri beantwortet eine Leserfrage zu Sexualität und Liebe.
Liebe Frau Burri, als Ehemann und Vater will ich meine Familie nur mit meiner Ehefrau führen. Dieser Verbund ist mir sehr wichtig, auch als konstanter Rückhalt für und zum Wohl der Kinder, und ich bemühe mich intensiv darum, dass er bis an mein Lebensende bestehen bleibt. Ins Bett will ich aber mit anderen Frauen. Das geht vielen so, ich weiss. Doch warum hat die Natur diese Diskrepanz kreiert?
Statistiken belegen, dass prozentual gesehen der Seitensprung Normalität ist. Trotzdem hegen wir in der heutigen Gesellschaft die Tendenz, Fremdgeher zu stigmatisieren. So muss Ihre Frage wohl eher lauten: Wieso hat die Gesellschaft diese Diskrepanz kreiert? Denn eine Mehrheit bewertet das Fremdgehen als eine negative Handlung, die in einer Partnerschaft keinen Platz hat. Warum nun halten wir das Dogma der sexuellen Monogamie für tauglicher und akzeptabler als das Ausleben des natürlichen sexuellen Triebs? Klar ist in der Sexualwissenschaft nur: Die Lust an der Untreue ist ein omnipräsentes Thema, das nicht verschwindet. Mehrere Forschergruppen beschäftigen sich seit längerem damit. Vor allem evolutionsbiologische Erklärungsansätze liefern Argumente: Ganz grob gesehen, geht es um Nutzenoptimierung; bei der Frau bezüglich ökonomischer und erziehungstechnischer Ressourcen. Und beim Mann geht es um die erweiterte Verbreitung des genetischen Materials. Wir Forscher verfolgen zudem heute einen Ansatz, bei welchem wir Untreue in sexuelle Untreue, romantische Untreue und sexuell-romantische Verwicklung unterteilen.
Nun zu Ihrer Frage: Als Erstes sollten Sie für sich klären, welche Motivation oder welche Ursache Ihrem Wunsch nach Fremdgehen zugrunde liegt. Empfinden Sie ihr Sexualleben als unbefriedigend? Bestehen Probleme oder Mängel in ihrer Partnerschaft? Befinden Sie sich als Paar in einem anderen Lebenszyklus? Gibt es ungeäusserte Bedürfnisse und Erwartungen? Die Gründe können sehr vielfältig sein und deswegen ist es wichtig, dass Sie sich in erster Linie bewusst machen, wieso Sie das Bedürfnis nach einem Seitensprung hegen.
Aber: Der Wunsch nach einem Seitensprung heisst nicht notwendigerweise, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt. Studienergebnisse zeigen, dass nur rund die Hälfte aller Fremdgeher «Beziehungsunzufriedenheit» als Grund für ihre Handlung angeben. Dennoch sollten Sie in Erwägung ziehen, etwaige Mängel in der Beziehung zu eruieren und bestimmte Probleme und Wünsche anzusprechen. So können Sie vielleicht den Wunsch nach Fremdgehen schmälern. In einer Beziehung stellt sich aus meiner Sicht zudem die Frage: Was beinhaltet Fremdgehen alles? Die Grenzen sind fliessend und müssen in jeder Partnerschaft individuell gesteckt werden. Ist ein Kuss zu verzeihen? Wichtig ist, dass sich beide Partner in ihrer Definition darüber einig sind, wie viel Treue vorausgesetzt wird und wo ein Betrug beginnt. In meinen Beratungen habe ich gelernt: Viele Beziehungen zerbrechen aufgrund des Fremdgehens – oder vielleicht viel eher aufgrund falscher Treueerwartungen. Aber Fakt bleibt, dass Fremdgehen in den meisten Fällen das gegenseitige Vertrauen in einer Partnerschaft erschüttert und zu erheblichen emotionalen Verletzungen und Narben führt.
Dieser Artikel wurde erstmals am 1. Juli 2016 publiziert und am 31. Juli 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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